Die Schluesseltraegerin - Roman
forschte Inga weiter.
»Nun, das hat vielerlei Gründe«, antwortete Melchior und dachte angestrengt nach. »Zum einen ist Bruder Agius einer der wenigen gefestigten Mitbrüder, denen der Vater Prior zutraut, in der Welt ohne Straucheln zurechtzukommen. Zum anderen ist Bruder Agius ein Vertreter der Auffassung, dass es auch Pflicht der Mönche sei, den Menschen die Lehre Gottes näher zu bringen. Der Geist Gottes muss in die Welt hineinströmen, so sagt
er immer und denkt dabei an die Lehren unseres heiligen Kirchenvaters Augustinus. Des jungen Augustinus, versteht sich. Wir Mönche sind bereits beseelt, ihr jedoch noch nicht, nicht vollkommen. Ihr lebt im Nichts, so meint Agius, denn er glaubt nicht an die Existenz des Bösen. Er glaubt, es gibt nur das Göttliche und das Nichtgöttliche, das Beseelte und das Nichts. Alles Böse ist nicht wirklich, es ist nur das Fehlen, das Fehlen des Lichtes. Ja, mein Bruder Agius glaubt nicht einmal an die Realität der Höllenqualen. Selbst diese Qualen, so meint er, sind nichts weiter als die Gewissensbisse des Sünders. Er will dem Bösen keine Macht zugestehen. Hätte das Böse Macht, so müsste man diese von der Macht Gottes subtrahieren, und das würde die Macht Gottes einschränken. Lieber ist ihm das Nichts!«
Inga versuchte zu verstehen: »Ist es üblich, dass ihr Mönche euch solch verwirrende Gedanken macht?«
»Wir lesen viele Stunden des Tages, hören Psalmen, kennen die Heilige Schrift, und die Klugen machen sich darüber ihre eigenen Gedanken. So wie Agius denken manche, viele jedoch sind anderer Meinung. Sie glauben fest an den Teufel und das Böse, weshalb er sie als Manichäer bezeichnet hat. Der Vater Prior ist in den meisten Dingen der gleichen Meinung wie Bruder Agius, in anderen Dingen nicht. Ihm ist wichtig, dass kein Zwiespalt unter den Brüdern entsteht, und deshalb war er froh, als Bruder Agius nichts dagegen hatte hinauszuziehen, um die Menschen der Umgebung zu beseelen. Aber ich rede wieder einmal zu viel. Gott und auch mein lieber Bruder Agius mögen mir verzeihen.«
Was Manichäer waren, wusste Inga natürlich ganz und gar nicht, aber sie verstand, dass die anderen Mönche diesen Ausdruck als Beleidigung aufgefasst hatten und dass es von Agius auch als solche gemeint gewesen war.
»Und du hast beschlossen, ihn zu begleiten?«
»Nun, ich wurde ausgewählt von der Bruderschaft. Zwar bin ich vornehmer Herkunft, aber dennoch liegt mir die Handarbeit mehr als die Studiererei. Es waren praktische Überlegungen, mich zum Begleiter zu wählen. Nichtsdestotrotz ermunterten mich auch die weisen Worte des großen Beda Venerabilis, der einst sagte: Draußen muss man wirken, weil Gott das Ziel aller Völker ist.« Und dann fügte er verstohlen hinzu: »Außerdem war der Vater Prior froh, dass er mein ungezügeltes Gelächter nicht mehr ertragen muss. Allzu oft wurde ich darob getadelt.«
Inga lachte, und dann sagte sie: »Bruder Agius wird sicherlich noch weniger vermisst als du.«
»Zu Unrecht gilt er den meisten Mitbrüdern als überheblich und stolz. Ihm fehle die nötige Demut. Sein Vorhaben, in die Welt zu ziehen und den Menschen den Glauben näher zu bringen, haben sie als Sarabaitentum bezeichnet, und hinter vorgehaltener Hand nannten manche ihn einen Ketzer. Doch diese Anschuldigungen sind haltlos. Viel beschäftigt er sich mit den Lehren der Kirchenväter und auch heidnischer Gelehrter, und viele eigene Schlüsse zieht er aus ihren Schriften. Doch keiner dieser Schlüsse ist gefährlich oder gar ketzerisch. Zum Glück weiß auch der ferne Vater Abt dieses und hat deshalb dem Vorhaben zugestimmt und dem Prior die Erlaubnis erteilt, uns hierher zu senden. Ausgeschlossene sind wir nun, wenn man so will«, sagte er dann munter.
»Aber sicherlich ist es schöner, in den Wäldern Krabbeltiere zu beobachten, als hinter den dicken Klostermauern zu sitzen, nicht wahr?«, fragte Inga.
»Darüber darf ich mir kein Urteil bilden. Aber Gott hat die Tierchen geschaffen, und wäre es nicht eine Missachtung seiner Schöpfung, würde ich sie ignorieren oder gar mit Füßen platttreten? Übrigens gibt es in dieser Gegend ganz besonders schöne Exemplare.«
»Tatsächlich?«
»Und ob. Neulich, auf dem dicht bewaldeten Berg, nördlich der Siedlung, habe ich doch tatsächlich einen Hirschkäfer von enormen Ausmaßen entdeckt.«
»Im Kapenwald?«, fragte Inga entsetzt, und auch Almut, die bisher nur still und schüchtern zugehört hatte, schrie fast auf vor
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