Die Schluesseltraegerin - Roman
Krabbeltieren.
»Schneisen?«, fragte Agius, der soeben, wenig gekonnt, mit einem Satz über das Bächlein gesprungen war und sich nun mitten im Dickicht am Rande des Kapenwaldes wiederfand. »Sind wir auch gestern Nacht hier entlanggekommen? Ich kann mich nicht mehr erinnern.«
»Nein, da haben wir einen anderen Weg genommen. Du willst zu der Höhle, da ist es am besten, an dieser Stelle in den Wald zu gehen.«
Agius ließ sich führen. Er wunderte sich ein wenig, wie Bruder Melchior bei all seinen geistlichen Pflichten, bei dem streng geregelten Tagesablauf auch eines Mönchs, der sich außerhalb des Klosters aufhielt, so viel Zeit fand, diesen Wald derartig ausgezeichnet zu studieren. Nun, jeder hatte seine kleinen Laster.
Tatsächlich führte ein breiter Weg ein Stück weit in den Wald hinein. Er war bewachsen mit verschiedenen Sträuchern, Hasel, Holunder, Hagebutte. Offensichtlich hatte es sich um eine einst sogar mit Pferdekarren befahrbare Straße gehandelt, doch darüber mussten bereits hunderte von Jahren vergangen sein. Der alte Tacitus kam Agius in den Sinn, die Schlacht des Varus. Die grausame Niederlage der stolzen Römer, niedergemetzelt von heimtückischen, barbarischen Germanen. Doch zu solchen Ausflüchten des Geistes war nun keine Zeit.
Nach weniger als einer halben Stunde endete der breite Weg, und sie mussten tief in das Dunkel des Waldes vordringen, sich ihre Bahn durch Dickicht, umgestürzte Bäume, Dornen, Wurzeln und Steine schlagen.
Immer wieder blieb Agius staunend stehen. Sie befanden sich tatsächlich in einer anderen Welt. Dieser Urwald war mit keinem Wald der Gegend zu vergleichen. Sein Unterholz war nicht von Schweine- und Ziegenherden abgeweidet, herabgefallene Äste nicht sämtlich als Brennholz aufgesammelt, sein Baumbestand nicht durch Fällarbeiten gelichtet. Vor ihm ragte ein enormer toter Baumriese kahl und aschfahl in die Höhe. Und wenige Schritte weiter erblickte Agius einen haushohen Baumstumpf von einem Umfang, dass ihn nicht einmal drei Männer mit ausgebreiteten Armen gemeinsam hätten umfassen können. Das Blätterwerk war durch die miteinander verwachsenen Kronen der hier vorherrschenden Eichen und Buchen so dicht, dass man tatsächlich kaum die Freundlichkeit des warmen, hellen Tages wahrnahm. Es roch modrig und alt. Dennoch gab es hier Leben. Vögel zwitscherten, und durch das Dickicht huschten für die Männer unsichtbare Tiere: Mäuse, Eichhörnchen, Kaninchen.
Vielleicht auch Kobolde und Zwerge. Und diese mannshohen Baumstümpfe konnte man in der Dunkelheit tatsächlich für verwunschene Krieger halten. Überhaupt wimmelte es hier in dieser fremden Welt nur so von unerklärlichen Erscheinungen. Unerklärlich für solche, die sich gegen jegliche Erklärungen wehrten.
Agius war fasziniert. Ihm gefiel, was er sah, dieses ursprüngliche, unversehrte Chaos.
War hier bereits die Weltseele des Göttlichen eingedrungen? Oder herrschte an diesem Ort noch immer das Nichts, die nackte Materie?
Nein, diese Welt war voll von Gott, sie war seine Schöpfung, ein Abbild des Paradieses. Gott war schon immer an diesem Ort gewesen, in diesem Land, bei diesen Menschen, doch sie wollten es noch nicht ganz glauben. Sie konnten ihn nicht begreifen und
suchten deshalb andere Lösungen. Man durfte es ihnen nicht verdenken, sie waren wie Kinder, die niemand erzogen hatte.
So dachte Agius und vergaß ganz und gar, weshalb sie hierher gekommen waren.
»Wann bist du bereit, weiterzugehen, Bruder Agius?«, fragte Melchior, den schon seit geraumer Zeit auf ein und demselben Fleck verharrenden, verklärt um sich blickenden Mitbruder betrachtend. »Schön ist es hier, ich weiß. Darum bin ich so oft hier.« Und grinsend forderte er Agius auf, ihm weiter zu folgen.
»Niemand wagt sich hier herein?«, fragte Agius.
»So ganz scheint das nicht zu stimmen. Ich habe außer der Höhle auch einige andere Spuren von Menschen gefunden«, erzählte Melchior, sich seinen Weg durchs Unterholz bahnend.
»Was für Spuren?«
»Nun, in dem hohlen Baum, dort hinter uns, da steht ein Topf. Vor einiger Zeit noch war er mit Schlachtabfällen gefüllt. Eine Opfergabe für die Geister, denke ich.«
»Für Wölfe und Füchse wohl eher«, vermutete Agius.
»So wird es dann auch sein. Die freuen sich«, stimmte Melchior ihm zu. »Außerdem gibt es hier zwei Fallgruben. In einer davon lag vor wenigen Wochen ein Wildschwein. Zwei Tage später war es fort. Also wird sich hier wohl auch der eine oder andere
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