Die Schluesseltraegerin - Roman
nickte er nur stumm mit finsterem Gesicht.
»Wir binden ihn los und nehmen ihn mit«, sagte er schließlich entschlossen.
»Wie sollen wir ihn tragen?«
»In dem Tuch, das ich mitgenommen habe. Mit Gottes Hilfe wird es möglich sein.«
»Wir werden die ganze Nacht brauchen.«
»Und darum müssen wir uns beeilen, denn niemand darf uns sehen.«
»Was hast du vor, Bruder Agius?«
»Schweige über alles, Melchior. Kein Wort, zu niemandem. Ich muss einige wirre Gedanken zur Sammlung bringen, erst dann will ich entscheiden, wie wir fortfahren.«
Und so gingen die beiden Mönche, heimlich des Nachts, eine in ein Tuch gewickelte Leiche tragend, durch den verwunschenen Wald hinunter ins Tal, an der schlafenden Siedlung vorbei, hinauf auf ihren Berg, zu ihrer Kirche.
Inga erschrak, als sie zur Quellmulde ging, um Wasser zu holen, und plötzlich Bruder Agius vor ihr stand.
»Ich habe hier auf dich gewartet«, sagte er streng.
»Ich wollte zur Messe kommen und auch zur Beichte, doch leider war zu viel zu tun in den letzten Tagen …«
»Wo findet sich ein Ort, an dem wir in Ruhe reden können? Noch heute«, unterbrach Agius die Ausflüchte Ingas.
Diese blickte ihn verwundert an. Dann zuckte sie mit den Achseln. Was wollte er von ihr?
»Treffen wir uns in dem verfallenen Haus. Auf halbem Wege zwischen eurem Hof und der Kirche.«
»In der alten Schmiede?«
»Genau dort. Nach der sechsten Stunde.« Dann drehte er sich um und ging.
In der alten Schmiede? Was sollte diese Heimlichtuerei? Inga verspürte wenig Lust, sich zu diesem höchst merkwürdigen Stelldichein zu begeben. Ihr schwante nichts Gutes.
Der Mönch Agius stand bereits vor dem Amboss des Schmieds Hatho, als Inga den unheimlichen, aber dennoch mittlerweile
vertrauten Ort betrat, an welchem sie noch vor wenigen Tagen an äußerst sündhaften Dingen beteiligt war. Und das unmittelbar an der Stelle, wo nun der Mönch stand. Beschämt blickte sie zu Boden und musste dennoch schmunzeln. Sie wollte es gar nicht, und sie wusste nicht einmal, wieso sie es tat.
»Es gibt keinerlei Grund zum Lachen. Mir ist es sehr ernst.«
Inga schaute entsetzt in das Gesicht des Mönches. Streng war er immer, aber laut hatte sie ihn noch nie erlebt. Es stand ihm nicht, passte ganz und gar nicht zu ihm.
»Was ist geschehen?«, fragte sie schüchtern.
»Gernot, Bruder des Ansgar und Bruder deines verstorbenen Mannes, ist tot. Mein Mitbruder Melchior fand ihn gestern erdrosselt im Wald.«
Ingas Gesicht wurde plötzlich aschfahl. Sie schwankte, hätte sich gern gesetzt, fand aber keine Möglichkeit dazu und fasste nur mit ihrer rechten Hand blind nach hinten, um sich an etwas festzuhalten. Da war jedoch nichts. Hilflos stand sie da, und ihre Lippen begannen zu zittern.
Ruhig schaute Agius sie an, er verfolgte jede ihrer Reaktionen, studierte genau ihr Mienenspiel, ihr Verhalten. Sie war eine gute Verstellungskünstlerin, wenn sie tatsächlich bereits vom Tode des Gernot wusste, wie er vermutete.
»Er ist doch zu den Friesen«, stammelte sie nur.
Agius schüttelte den Kopf.
»Erdrosselt? Wer sollte das tun?«
»Das frage ich dich. Und warum vermutest du, er sei bei den Friesen?«
»Dorthin wollte er, zumindest träumte er davon. Als er verschwand, war ich fest davon überzeugt, dass er zur Weser geritten ist, um mit ihnen zu fahren.«
Wieder schüttelte Agius nur den Kopf und beobachtete sie scharf, darauf wartend, dass sie sich verriet.
»Ansgar wird glauben, mein Bruder habe ihn erdrosselt. Aber das hat er nicht, sicher hat er das nicht.« Ihr Stimme wurde flehentlich.
»Wer dann?«
»Räuber?«, fragte sie.
»Geister?«, fragte er.
Inga stutzte.
»Du glaubst nicht an Geister, Bruder Agius.«
Agius reagierte nicht, sein rechter Mundwinkel zuckte nur leicht.
»Ich weiß, dass ich in der Beichte von Geistern sprach und davon, dass ich fürchtete, sie gerufen zu haben, um Rache an Rothger und Uta zu üben. Aber das hat mit Gernot nichts zu tun.« Inga war verzweifelt. Sie fühlte sich angeklagt, und ihr Gefühl täuschte sie nicht.
»Wer ist der weiße Mann im Kapenwald?«, fragte Agius plötzlich.
»Der weiße Mann?« Inga erschrak.
»Bruder Melchior berichtete mir, dass du ihn kennst. Auch ich habe ihn gestern gesehen, unweit der Fundstelle des Toten.«
»Gernot ist im Kapenwald gestorben?« Inga schrie fast.
»Also doch Geister«, sagte Agius bitter lächelnd. »Mach es dir nicht zu leicht, Witwe Inga. Wer ist der weiße Mann?«
»Ich weiß es
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