Die Schluesseltraegerin - Roman
recht wollen sie nicht wissen, was uns hier widerfährt. Wir sind hier allein auf uns gestellt, und es liegt an uns, den Willen des Herrn zu erkennen und danach zu handeln. Die Regeln des Klosters sind nicht für diese Welt geschaffen. Verwirren wir sie nicht, nicht einmal den Vater Prior.«
»Wenn du so sprichst, Bruder Agius, fürchte ich mich vor dir. Mangel an Demut findet sich in deinen Worten. Tatsächlich möchte man meinen, dass Bruder Johannes nicht gänzlich falsch dachte, als er dich als Sarabaiten bezeichnete. Wie heißt es doch von dieser dritten und widerlichen Art von Mönchen: Was sie meinen und wünschen, das nennen sie heilig, was sie nicht wollen, das halten sie für unerlaubt.«
»Wenn du so denkst, Bruder Melchior, dann geh wieder zurück
zu den anderen und berichte von meinem Ungehorsam. Ich kenne unseren Vater Prior nur zu gut, und ich weiß, welchen Rat er uns geben würde, wenn wir ihn in dieser Sache um Rat fragten.«
»Ganz gleich, wie dieser Rat auch sei, wir müssten uns ihm beugen.«
»So ist es, und deshalb hole ich ihn nicht ein.«
»Das grenzt an Ketzerei, Bruder Agius.«
»Nein. Überheblichkeit mag es sein, aber keine Ketzerei. Hier, guter Melchior, geht es um die Welt und um ihre Belange. Davon, Gott möge mir verzeihen, weiß der Vater Prior nur wenig. Auch ich wüsste lieber weniger von ihr, und manches Mal bereue ich den Schritt, den wir getan haben. Nicht besser als keltische Wanderprediger sind wir. Aber wir haben sie verlassen, die schützenden Mauern, und hier in dieser Wildnis herrschen andere Gesetze. Durch unser Stillschweigen können wir unnötiges Blutvergießen vermeiden. Das ist eine gottgefällige Tat, und der Herr wird uns vergeben, wenn wir auch unseren Mitbrüdern nicht einmal in der Beichte davon erzählen. Denn ich für meinen Teil – und das sage ich nur dir, weil ich dir vertraue – kann mir vorstellen, dass es für manchen eine willkommene Nachricht wäre, zu hören, dass die letzten freien und unverbesserlich heidnischen Bauern beginnen, sich selbst zu zerfleischen, und ihr Land somit herrenlos machen.«
»Ich will nicht hören, was du da sagst, Bruder Agius. Dafür könnten wir brennen.«
Agius lachte und klopfte dem anderen auf die Schulter.
»Und nun, lieber Melchior, zeigst du mir die Stelle im Kapenwald, an der du die eigentümliche Behausung gefunden hast.«
Und wieder zog es die beiden Mönche in den verwunschenen Kapenwald, dieses Mal bei helllichtem Tage. Auf ihrem Weg
durch das Tal begegneten sie mehreren Menschen. Kinder liefen hinter ihnen her, alte Frauen begrüßten sie freundlich, und ein junger Mann fragte sie, wohin sie des Weges wollten.
»In den Zauberwald gehen wir«, antwortete Agius. »Die Geister bestaunen.«
»Tut das nicht.« Der junge Mann war entsetzt. »Dort wimmelt es nur von bösen Gestalten, selbst bei Tage. Denn der Wald ist so dunkel, dass er an manchen Stellen nicht einmal einen Funken Sonnenlicht hereinlassen will.«
»Aberglaube ist das. Heidnischer Aberglaube. Dieser Wald ist nichts anderes als ein Teil der göttlichen Welt. Erschaffen, um Tieren Nahrung und Obdach, euch Menschen Holz, Honig, Kräuter und Jagdbeute zu geben. Ihr aber erspinnt nichts weiter als unsinnige Geschichten und lasst dieses wertvolle Stück Land verderben. Das ist nicht Gottes Wille.«
Agius schritt weiter, und Melchior folgte ihm, dem zurückbleibenden jungen Mann zum Abschied versöhnlich winkend. Es hatte seinen guten Grund, dass man in den umliegenden Siedlungen und Höfen lieber den lustigen, guten als den hochmütigen, strengen Mönch empfing und es Agius in den vielen Wochen nicht gelungen war, auch nur annähernd so viel Vertrauen zu gewinnen wie Melchior.
Der Wald war tatsächlich finster. Wie eine riesige Mauer türmte er sich direkt am nördlichen Ufer des kleinen, freundlich plätschernden Baches auf. In der letzten Nacht hatte Agius wenig auf den Weg geachtet, zu sehr war er in Gedanken versunken gewesen. Nun aber erkannte er, dass es nahezu kein Hineinkommen gab.
»Mehrere kleine und größere Schneisen habe ich gefunden«, sagte Melchior und schritt emsig voran. Sein sonniges Gemüt brachte ihm den Vorteil, schnell über Unstimmigkeiten hinwegsehen
zu können und sich gleich wieder den angenehmen Seiten des Lebens zu widmen. Und die angenehmste Seite war für den in engen Klostermauern aufgewachsenen Mönch der Wald mit all seinen Pflanzen und vor allem mit all seinen Tieren, vornehmlich
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