Die Schluesseltraegerin - Roman
nicht. Ein Unhold, ein Hexenmeister, ein Alb? Ich weiß es wirklich nicht. Ein einziges Mal bin ich ihm begegnet. Gefürchtet habe ich mich und bin fortgelaufen. Hat er ihn getötet, weil er in sein Reich eingedrungen ist?«
Agius lachte wieder hämisch. »Man hat ihn auf dem Weg mit einem großen Stein am Kopf getroffen, ihn dann weit in den Wald geschleift, an einen Erlenbaum gebunden, erdrosselt und schließlich diese Rune in den Stamm geritzt. Es muss eine Geheimrune sein, denn ich habe sie noch nie zuvor gesehen.«
Agius zeichnete die Rune in den Staub auf den Amboss. Inga sah ihn staunend an.
»Du weißt, was dieses sonderbare Zeichen bedeutet. Sag es mir«, forderte Agius sie auf.
»Rache«, flüsterte Inga fast unhörbar. Und dann fügte sie lauter hinzu: »Ansgar darf es nicht wissen. Niemals. Er bringt uns alle um.«
»Also war es dein Bruder«, stellte er kühl fest.
Inga schüttelte verzweifelt den Kopf.
»Weißt du, wer es war?«
»Nein.«
»Ich würde dir gerne glauben, aber ich kann es nicht. Mit einem jedoch hast du Recht: Wenn Friling Ansgar davon erfährt, wird er ebenfalls Rache im Sinn haben. Und Rache, ob sie den Schuldigen trifft oder nicht, ist immer ein schändliches Verlangen. Eine große Sünde.«
»Er muss es doch gar nicht erfahren. Lassen wir ihn im Glauben, dass Gernot in den Norden gegangen ist«, flehte Inga.
»Wie soll ich das machen? Sein toter Körper liegt in unserer Kapelle. Und außerdem, wer sagt mir, dass in der nächsten Woche nicht Ansgar, seine Frau Ada oder eine der Zwillingsschwestern ermordet aufgefunden werden?«
»Ich würde gerne helfen, aber ich weiß nichts. Und meinen Bruder beschuldigen, das kann ich nicht.«
»Schwörst du, bei allem, was dir heilig ist, dass du mir die Wahrheit gesagt hast?«
»Ja.«
»Dann will ich dir glauben, auch wenn ihr Germanen und ihr Frauen insbesondere als meineidig geltet. Gernot wird christlich bestattet, heimlich.«
Und dann verließ er die Schmiede. Inga blieb zurück, starr vor Schreck.
XII
G ernot, jüngster Sohn des Hilger, verstorben im Alter von nur vierundzwanzig Jahren, erhielt das christlichste Begräbnis, das jemals einem Toten der Hilgerschen Sippe zuteil wurde. Keinerlei heidnische Handlungen wurden an seinem Leichnam vollzogen, keine Totenwache zur Kontrolle über den Verbleib seines gefürchteten Geistes, kein Totenmahl zur Beschwichtigung seiner ermordeten Seele. Nicht einmal bei der Bestattung des von einem wilden Stier zertrampelten alten Hatho war ein christlicher Priester anwesend gewesen. Nicht, dass man gesteigerten Wert darauf gelegt hätte, aber eine gewisse Ehre war es schon, und zudem eine zusätzliche Sicherheit für das Heil des Verstorbenen. Denn ob die Toten nun ins Reich der Hel oder ins Reich des Christengottes gingen, das konnte kein Lebender mit Gewissheit sagen, und so war es sinnvoll, sich für beide Möglichkeiten gründlich zu wappnen.
Doch bei Gernots Begräbnis war niemand zugegen, der der germanischen Götter und Geister gedachte. Seine Familie sollte nichts von seinem Tod erfahren, und es war keine leichte Aufgabe für Agius gewesen, seinen Mitbruder Melchior von dieser heimlichen Handlung zu überzeugen. Eine große Sünde sei das, dafür müssten sie sich geißeln, nächtelang durchbeten, ein Jahr lang fasten, und dennoch würde der Herrgott eine solche Tat nicht bedingungslos verzeihen. So glaubte Melchior.
Agius war in dieser Hinsicht anderer Meinung. Auch wenn
er Melchior nicht überzeugen konnte, rang er ihm dennoch das Versprechen ab, Stillschweigen über den Vorfall zu bewahren – selbst in der Beichte.
So begruben sie den Toten also allein, nach christlichem Ritual, direkt neben seinem jüngst verstorbenen Bruder Rothger.
»Wir hätten dem Vater Prior zuvor darüber Bericht erstatten müssen, Bruder Agius.« Melchior zweifelte noch immer. »Wie steht es doch in unserer heiligen Regel: Tu alles mit Rat, dann brauchst du nach der Tat nichts zu bereuen.«
»Es steht aber auch geschrieben: Auch nehme sich keiner heraus, einem anderen alles zu erzählen, was er außerhalb des Klosters gesehen und gehört hat, denn das richtet großen Schaden an«, antwortete Agius.
»Aber damit ist doch nicht der Vater Prior gemeint«, empörte sich Melchior über den Hochmut seines Mitbruders.
Agius blickte ihn stumm und ernst an, dann sagte er:
»Wir sind Verstoßene, Bruder Melchior. Befleckt vom Treiben der Welt. Sie wollen uns gar nicht mehr in ihren Mauern, und erst
Weitere Kostenlose Bücher