Die Schluesseltraegerin - Roman
laut und wiederholt kundtun, bevor ihnen unter großem Vorbehalt die Tür geöffnet wurde.
»Welch ein Angang«, begrüßte Liudolf die beiden unfreundlich. »Erst kommt mir die Hundswut ins Haus, und dann ist das Erste, was ich am heutigen Tage erblicke, das alte Weib Gunda. Schlimmer als eine Krähe. Wie viel Unglück soll mich noch ereilen? Was wollt ihr?«
Inga erklärte mit gesenktem Blick, aber fester Stimme ihr Anliegen.
»Brennen wollt ihr sie?«, fragte Liudolf, Inga abschätzig betrachtend.
»So ist es Brauch bei den Mönchen. Lass es uns versuchen, denn schaden kann es nicht«, antwortete Inga rasch. Ihr war nicht wohl in ihrer Haut.
»Ihr fehlt nichts. Die Wunde verheilt.«
»Das stimmt nicht«, meldete sich eine Stimme aus dem Hintergrund zu Wort. Es war Heide, die Frau des Liudolf, ein bereits graues, fast zahnloses Weib von weit über vierzig Sommern.
Anders als bei ihrem Mann, der gleichen Alters war, hatte das Kommen und Gehen der Jahreszeiten es nicht gut mit ihr gemeint, und nun war sie auch noch einem tollwütigen Wolf zum Opfer gefallen.
»Du hast kein Fieber, keine Schmerzen mehr. Also, was beschwerst du dich, Frau?«, fuhr Liudolf sie barsch an.
»Jucken und brennen tut es. Heute Morgen hat es angefangen«, beklagte diese sich leise.
»Wenn Wunden heilen, dann jucken sie. Das weiß jedes Kind. Ihr könnt gehen. Hier wird nicht gebrannt.«
»Doch, sie sollen mich brennen. Wenn die Mönche es sagen, dann wird es richtig sein.«
»Ach, mach doch, was du willst. Lass dich nur verunstalten, viel Schaden kann man da eh nicht mehr anrichten.«
Inga schluckte. Vorsichtig drängte sie sich an dem breiten, bedrohlichen Liudolf vorüber und bahnte sich den Weg zu Heide, die auf der Bank saß, welche sich, wie in einem jeden Langhaus dieser Gegend, rundherum um die Wände des großen Wohnraumes erstreckte.
Bereitwillig zeigte Heide ihr Bein. Die Wunde war nicht groß, denn der Wolf war sofort nach dem Angriff in die Flucht geschlagen worden, und tatsächlich schien sie auch nicht entzündet zu sein. Inga führte die Verletzte zur Feuerstelle in der Mitte des Raumes. Dann nahm sie den Schlüssel aus einem Beutel, den sie um den Hals trug, hielt ihn ins Feuer, bis sein Bart glühte, und presste ihn schließlich zitternd und widerwillig auf das Bein der Frau. Diese schrie erbärmlich, und der ekelerregende Geruch verbrannter Haut breitete sich im Nu im Hause aus.
Alle starrten voll stummen Entsetzens auf die Szene und beobachteten, wie Inga die fast ohnmächtige Heide zu ihrem Lager zurückführte, sie verband und ihr die heiligen Pflichten auftrug, die es laut Melchior zum Zwecke einer erfolgreichen Heilung zusätzlich zu erfüllen galt.
Ohne ein Wort des Dankes, aber auch ohne Schimpf und Schande durften die Frauen den Hof des Liudolf wieder verlassen.
Und so brannte Inga noch am gleichen Tag die Wunde im Oberschenkel des zehnjährigen Sohnes eines Hörigen, ein tapferes Kind, dessen Unglück Inga sehr zu Herzen ging, des Weiteren brannte sie die linke Hand eines Knechtes aus der Siedlung am östlichen Ausläufer des heiligen Berges, und im selben
Ort musste sie den glühenden Schlüssel in das Gesicht eines ehemals bildschönen Mädchens von nur fünfzehn Jahren halten.
Als sie tief in der Nacht erschöpft auf ihr Lager sank, war Inga sich unsicher, ob ihre Handlung richtig war. Was nur hatte sie da getan? Verunstaltet hatte sie die Menschen, ihnen die Haut verbrannt, ihnen schreckliche Schmerzen zugefügt. Und das sollte tatsächlich helfen? Leicht war es ihr nicht gefallen, und sie wollte sich gar nicht erst vor Augen führen, was geschah, wenn einer ihrer Patienten dennoch starb.
Doch Inga kam nicht dazu, die ihr aufgetragene göttliche Mission aufzugeben, denn schon am nächsten Tage wurde sie zu zwei weiteren Menschen gerufen. Einer dieser Menschen war Heinrich, der Neffe Rothgers und Ansgars.
Almut, seine jüngere Schwester, hatte den jungen Mann in den Hilgerschen Wald geführt, fort von dem Haus, dessen Bewohner nicht wissen durften, dass sie die verstoßene Inga um Hilfe bat. Dort, inmitten der Eichen und Buchen, hatte sie bereits ein Feuer gemacht, als Inga kam.
Dem Buben ging es nicht schlecht. Am Tag zuvor war er auf dem eigenen Hof von einem Fuchs angefallen und in die Wade gebissen worden. Er hatte das Tier eigenhändig erwürgen können, doch die Wunde war sehr tief.
»Ich will nicht, dass er stirbt. Er ist der einzige Mensch, der mir noch geblieben ist«, weinte
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