Die Schluesseltraegerin - Roman
sollen in den Wald. Ich werde die Nacht mit ihr im Freien verbringen.«
Und so trug sie die ganze folgende Nacht das Kind am Waldesrand herum, ging mit ihr zum plätschernden Bach, tauchte die heißen Füßchen ins kalte Wasser, sang ihr Lieder, versuchte sie in den Schlaf zu wiegen. Gegen Mitternacht stieg das Fieber erneut an, der Husten jedoch wurde weniger. Bald darauf schlief Rike ein.
Inga saß mit ihr an einen Baum gelehnt und betrachtete im Schein des Vollmondes das hübsche, fiebrige Gesichtchen. Ganz friedlich war sie. Der Atem ging noch immer rasselnd, hatte sich aber etwas beruhigt. Liebevoll küsste Inga die heiße Stirn, kleine Schweißperlen begannen sich darauf zu bilden – ein gutes Zeichen, denn es hieß, dass das Fieber zu sinken begann.
Die Sonne schien bereits hell vom Himmel, als Inga erwachte. Ein kalter Schreck durchfuhr sie. Sie war eingeschlafen, obwohl sie sich vorgenommen hatte, die ganze Nacht über wach zu bleiben.
Wo war das Kind?
Rike war fort.
Verzweifelt schaute sie sich um, rief nach dem kleinen Mädchen,
schrie seinen Namen. Wild vor Angst, raste sie zunächst hierhin, dann dorthin. Ihr Herz überschlug sich fast.
»Schon gut, schon gut, sie ist hier bei mir«, hörte sie eine wohlbekannte Stimme. Die krumme Gunda kam mühselig mit dem Kind auf dem Arm zu Inga gegangen.
»Sie hustet noch immer, ist auch noch ein wenig heiß. Hat aber selbst getrunken, ganz alleine. Und sogar ein Stückchen Brot wollte sie zum Frühstück essen.«
Erleichtert nahm Inga der Buckligen das Kind ab. Vollkommen nassgeschwitzt war es, die Äuglein ganz rot und die Haut blass. Aber sie lächelte und zeigte dabei ihre vielen kleinen, weißen Zähnchen.
»Dich bekommen wir wieder ganz gesund, das verspreche ich dir«, sagte Inga und strich Rike die nassen, blonden Löckchen aus dem Gesicht.
Aber bei diesen Worten wurde ihr Blick traurig. Schon die ganze Zeit über, seit die kleine Rike bei ihr war, musste sie an ihr Söhnchen denken. Genauso alt wie dieses Mädchen wäre nun auch er. Ein hübscher kleiner Bub mit einem strammen Schopf war er gewesen, doch viel zu früh war er auf die Welt gekommen. Nichts hatte auf eine Frühgeburt hingedeutet, die ganze Schwangerschaft über hatte Inga keine Schmerzen, kein Unwohlsein verspürt. Sie hatte sich bewegen können wie eh und je, und das Kind in ihrem Bauch hatte stets vergnügt und munter gestrampelt.
Dann jedoch waren diese Krämpfe gekommen, die gleichen wie in den ersten drei Schwangerschaften. Und selbst Ursel, eine patente Witwe und Geburtshelferin aus dem Tal, hatte sich das nicht erklären können. Wehen, so meinte sie, seien das nicht. Zwei Tage lag Inga da, hatte Fieber und Durchfall, dann kam das Kind – tot. Zum vierten Male in Folge ein totes Kind.
Ada kehrte erst am späten Abend zurück. Sie hatte sich hinausgeschlichen, als alle schliefen. Ansgar und dem Rest der Familie hatte sie erzählt, sie habe die Hebamme Ursel getroffen, deren Sohn ebenfalls am Schafhusten leide. Für einen Topf Honig habe diese auch die kleine Rike zu sich genommen, um beide Kinder zu pflegen. Eine bessere Lüge war ihr nicht eingefallen. Doch Ansgar sagte nichts dazu und fragte nicht weiter nach. Ihm war es lieber, das Kind weit fort zu wissen, denn der Tod eines solch kleinen Menschen war selbst ihm ein unerträgliches Erlebnis. Ja, die Jüngsten ereilte es weit häufiger als selbst die ganz Alten, das war eine schmerzhafte Erfahrung, von der niemand, nicht einmal die Mächtigsten, verschont blieben. Dennoch war der Anblick eines solch winzigen, verstorbenen Wurmes keiner, an den man sich gewöhnen konnte oder wollte.
Im Stillen nahmen sie alle an, dass die einzige Tochter des Ansgar ihren dritten Sommer nicht überleben werde.
Wie staunte Ada und wie überglücklich war sie, als sie die Kleine lebend und zufrieden schlafend auffand. Inga hatte sich und der kleinen Rike ein Zelt aus Fellen und Tuchen gemacht und im Hofe der Schmiede aufgestellt.
»Bei dem Husten ist es besser, wenn sie im Freien schläft. Der Ruß und der Rauch in den Häusern würde es nur schlimmer machen«, flüsterte Inga, nachdem sie sich mit der erleichterten Schwägerin auf die Bank vor dem Haus gesetzt hatte.
»Wird sie überleben?«
»Ich glaube schon. Doch lass sie noch hier bei mir, denn dieser Husten kann auch auf die anderen Kinder übergehen. Erst wenn sie vollkommen genesen ist, sollte sie wieder zurück.«
»Was sage ich dann Ansgar? Er glaubt, sie sei bei Ursel,
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