Die Schluesseltraegerin - Roman
und außerdem denkt er, sie sei dort längst gestorben.«
Inga musste lachen. »Dann wirst du ihm die Wahrheit sagen müssen.«
»Das geht nicht, Inga. Du und deine Familie, eure Namen werden in unserem Hause nicht mehr erwähnt. Nicht im Guten, nicht im Bösen. Es gibt euch einfach nicht mehr. Von deiner Wirkung als Kräuterfrau ist Ansgar nicht angetan. Er spricht kein Wort darüber, aber wenn Besucher aus dem Tal kommen und dich loben, haut er nur auf den Tisch und schreit ›Ruhe‹.«
»Ich sehe ihn gar nicht mehr den Berg hinaufkommen und zur Kirche gehen.«
»Seine Beichtübungen hat er eingestellt. Auch mit den Mönchen will er nichts mehr zu tun haben. Und selbst mit dem Liudolf gibt es nur Streit.«
»Was sagen die Mönche zu alldem?«, wollte Inga wissen.
»Bruder Agius war bei uns, um mit ihm zu reden. Ansgar hat ihn vertrieben und ihm hinterhergerufen, er solle ruhig die Mannen des Kaisers holen, von denen ließe er sich gern einen Kopf kürzer machen, aber zu Kreuze kriechen werde er nicht mehr.«
Inga nickte stumm.
»Und noch immer versucht er Gernot zu finden«, fuhr Ada nach einer Pause fort. »Er streift frühmorgens durch die Wälder und sucht nach seiner Leiche. Er glaubt nicht, dass er fort ist. Er ist sich sicher, dass er ermordet wurde.«
»Was würde er tun, wenn er seine Leiche findet?«
»Euch umbringen. Allesamt.«
Wieder nickte Inga. Ada schaute sie nur stumm von der Seite an.
»Ich danke dir, Inga. Das war sehr großherzig von dir. Du hast mein Kind gerettet. Du wärest eine gute Mutter geworden, eine bessere als ich.«
Ada nahm Ingas Hände in die ihren und schaute ihr lange in die Augen. Sie blickte nicht mehr kühl und ungerührt wie
sonst, sondern traurig. Das war die erste Gefühlsregung, die Inga jemals an dieser Frau erlebt hatte.
»Du weißt, dass mir bekannt ist, was du und Ansgar miteinander getrieben haben. Ich hege deswegen keinen Groll gegen dich. Zuvor war es die Magd, und jetzt ist sie es wieder. Das ist mein Los. Nur eines will ich wissen: Hast du ihn geliebt?«
Inga wurde ein wenig rot. Sie genoss es, so vertraut mit ihrer Schwägerin zu sein; schon immer hatte sie gespürt, dass es eine Verbindung zwischen ihr und dieser ruhigen Frau gegeben hatte. Deshalb wollte sie nun auch ganz ehrlich antworten, aber diese Ehrlichkeit bereitete ihr Schwierigkeiten.
»Ich glaube nicht«, antwortete sie nur knapp.
»Ich liebe ihn nicht«, erwiderte Ada genauso kurz.
»Wie kam es, dass ihr geheiratet habt?«, wollte Inga nun wissen.
»Unsere Väter hatten sich das so ausgedacht. Eigentlich war Rothger, dein Mann, für mich bestimmt. Doch ich habe ihm nicht gefallen. Ansgar ging es da nicht anders, aber Hilger hat ihm Versprechungen gemacht. Er bekäme einen eigenen Hof, so hieß es. Doch dieses Versprechen hat er nie gehalten. So war er nun einmal, der alte Hilger.«
Und nach einer Weile sagte sie dann: »Ich beneide dich ein wenig, Inga. Du darfst allein sein. Kein grober Mann, keine stets schreienden oder kranken Kinder, keine neugierige und verschlagene Sippe am selben Tisch, kein faules Gesinde.«
»Dafür eine neugierige Gunda, die mit Sicherheit jedes Wort belauscht, das wir hier sprechen«, sagte Inga absichtlich laut.
»Ich gehe jetzt und werde mir überlegen, was ich ihm über den Verbleib unserer Tochter sage. Es wird mir etwas einfallen. Vielen Dank, Inga. Vielen Dank. Morgen komme ich wieder, wenn du erlaubst.«
»Komm, wann immer du willst«, sagte Inga zum Abschied
und schaute Ada noch lange hinterher, wie sie schließlich, den schmalen Steg überquerend, auf der anderen Seite des Baches in der Dunkelheit verschwand.
Wutschnaubend wie ein wilder Stier stand er schon im Morgengrauen des nächsten Tages vor der Türe. Inga lag noch immer im Zelt, das er offenbar nicht bemerkt hatte, und hörte, wie er die arme Gunda aus vollem Halse anschrie.
»Wo ist mein Kind, du alte Vettel?«
Inga blieb ruhig. Sie nahm die verschlafene Rike auf den Arm, stieg aus dem Zelt heraus und brachte sie ihm.
»Du willst sie sicher mit nach Hause nehmen. Sie ist auf dem Weg der Besserung, aber noch immer sehr schwach. Der Husten ist noch nicht überwunden.«
Er riss ihr das weinende Kind aus den Armen. Blass sah er aus und dünn war er geworden, weit entfernt von dem kraftstrotzenden Mann, den sie bis vor wenigen Monaten noch so gut kannte.
»Wage es nicht noch einmal, mir unter die Augen zu treten«, fuhr er sie durch zusammengebissene Zähne scharf an. Inga
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