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Die Schluesseltraegerin - Roman

Die Schluesseltraegerin - Roman

Titel: Die Schluesseltraegerin - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Neumann
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hatte schon Sorge, dass er jeden Moment ausholen und sie schlagen würde, dennoch ließ sie sich nicht beirren.
    »Du bist mir unter die Augen getreten, Ansgar«, antwortete sie kühl. »Bevor du gehst, solltest du einen Klatschmohnsirup gegen den Husten mitnehmen.«
    Doch während sie das sagte, war er bereits aufgebrochen.
    Im Gehen wandte er sich noch einmal um und schrie: »Verschwinde von hier, Inga. Verding dich in der Ferne als Hure, aber verschwinde. Das ist ein gut gemeinter Rat, wenn dir dein Leben lieb ist.«

XVIII
    R ie zuvor hatte Inga eine solche Fülle an duftenden Kräutern gefunden. Auf dem von Menschenhand fast unberührten Eschenberg, wohin sich höchstens einmal die Ziegen- und Schweinehirten mit ihren Herden verirrten, gediehen auf dem steinigen Untergrund die herrlichsten und nützlichsten Gewächse. Dort gab es nicht nur das begehrte Katzenkraut, nein, Inga fand Körbe voll von Augentrost gegen Sehschwäche, Sonnenwendgürtel gegen Verdauungsprobleme, Brustwurz gegen Atemnot, Goldrute gegen Blasenleiden, den giftigen Wurmfarn gegen Würmerbefall und viele andere mehr.
    Auf allen vieren kroch sie zwischen Dornbüschen herum, kletterte die von braunem Gras und Geröll bedeckten Hänge hinauf, erklomm den Hügel, so weit es eben ging, denn kurz vor seiner Spitze wurde das Dickicht undurchdringlich und erweckte nicht mehr den Anschein, dass dort wertvolle Gewächse zu finden seien. Sie sammelte den ganzen Morgen. Immer wieder warf sie einen Blick ins Tal, dorthin, wo sämtliche Bewohner auf ihren Feldern waren, wo Getreide und Rüben geerntet wurden, wo sie schwitzten und arbeiteten. Welch eine Mühe, welch eine Plage war diese Arbeit Jahr für Jahr gewesen, und besonders zur Erntezeit, wo so viel zu tun war, dass nicht einmal die zahlreichen Hände, welche der Hilgerschen Sippe tatkräftig zur Verfügung standen, ausreichten. Alle mussten helfen, alt und jung, hochschwanger oder krank, selbst die krumme
Gunda war doch wieder angeheuert worden, um Liudolf und seiner Sippe zur Hand zu gehen.
    Inga hatte niemand gefragt.
    Sie war zwar als Heilerin akzeptiert und als solche begehrt, doch Umgang wollte man nach wie vor nicht mit ihr pflegen. Dies war ihr Los. Keiner wäre auf den Gedanken gekommen, diese Frau zu sich auf die Felder zu holen. Nun saß sie da, auf diesem Hügel, von dem sie einen einzigartigen Blick über das ganze ihr bekannte Land hatte, und fühlte sich einsam.
    Der Herbst war die Zeit des Überflusses, des Sammelns und Bewahrens, des Vorbereitens auf den bitterkalten Winter. Man verabschiedete den Sommer, traf sich mit der ganzen Sippe, von nah und fern reisten sie an, die Brüder und Schwestern, Vettern und Basen, die Oheime und Tanten. Alle kamen sie zurück zum Hofe ihrer Väter, um dort zu schwelgen und den Göttern oder besser dem einen Gott für den reichen Segen zu danken.
    Inga hatte stets großes Gefallen an diesen Feiern gefunden.
    Im letzten Jahr allerdings hatte sie sich nicht besonders freuen können, hatte sie doch mit ansehen müssen, wie der betrunkene Rothger am späten Abend mit seiner Dirne auf dem Tisch zu tanzen begann. Dennoch vermisste sie es, sich in der Gemeinschaft über die vollbrachte Arbeit zu freuen, die gefüllten Vorratskammern zu begutachten und dem Winter sowie der Abgabe des Kirchenzehnts ohne Bangen entgegenzusehen.
    Sie hatte bisher immer Glück gehabt. Sowohl die Familie des Meinrad als auch die des Hilger hatten niemals darben müssen. Der lange Krieg, der in den Zeiten ihrer Großväter zwischen Sachsen und Franken geherrscht hatte, hatte den Höfen dieser freien Engern nicht langfristig schaden können. Das war dem Edlen Brun zu danken, dem späteren Grafen. Er hatte es
verstanden, sich mit den Franken gutzustellen und bald den christlichen Glauben anzunehmen.
    Auch wenn die freien Bauern stets auf die verräterischen Edlen schimpften, so war es auf eben diese zurückzuführen, dass fast jedem alles geblieben war. In anderen Gebieten – davon hatte Inga schon als Kind immer wieder gehört – war es anders gewesen, denn die Franken waren nicht zimperlich. Hunderte von aufrührerischen Sachsen wurden mitsamt ihrer ganzen Sippschaft vertrieben, mussten das Land verlassen, weit fort ziehen bis tief in den Süden, dorthin, wo die Franken schon seit langer Zeit alles unter ihrer Herrschaft vereinten.
    Inga verstand, dass die freien Sachsen die fränkischen Eroberer noch immer hassten, sie verstand sogar, dass der alte Hilger ihren Großvater als

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