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Die Schmerzmacherin.

Die Schmerzmacherin.

Titel: Die Schmerzmacherin. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlene Streeruwitz
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Bergen. Hoch droben. Wenn wir da wären. Da, denke ich. Dort könnte man alle Probleme vergessen. Das wäre ja auch das Beste. Weggehen und alles vergessen. Es war dann ein Märchen. Ein Märchen. Das hängt dunkel weit hinten in der Erinnerung. Ein Märchen. Das muss nicht einmal vergessen werden.«
    Sie lehnte die Stirn gegen die Fensterscheibe. In den Kursen hatte es geheißen, dass ein Verdacht als ein set unvollständiger Daten anzusehen war. Dass es darum ginge, die Umstände in diese Daten umzudenken. Die Ergänzung von Daten wäre ein weitaus einfacherer Vorgang als das Ausdenken einer Geschichte. Ein vollständiger Datensatz, der war in vielen Formen lesbar. Rechtlich. Psychologisch. Sozial. Technologisch. Medizinisch. Sicherheitstechnisch. Militärisch. Ihre Daten waren vollständig. Mittlerweile. Medizinisch. Genetisch. Die Beweise lagen vor. Der Zahnstocher und ihr Bindegewebe. Oder gehörte dieses Bindegewebe dem Kind, das dann nicht. Gehörte das schon nicht mehr ihr. War das noch sie oder nicht.
    »Du kennst das ja.« sagte sie. Sie trat vom Fenster zurück. Schaute hinaus. »Du kennst das ja. Das ist allein schon eine Katastrophe. Ich wusste aber gar nicht, dass ich ein Kind bekomme. Wenn ich das gewusst hätte. Vielleicht hätte es keine Fehlgeburt gegeben. Vielleicht hätte ich das verhindern können. Aber was hätte ich gemacht, wenn ich dieses Kind bekommen hätte. Ich wäre zu euch geflüchtet. Ich hätte nicht mit diesem Mann in London gegessen und wäre nicht auf die Idee gekommen, dass er. Dann hätte ich ein Kind, von dem ich nichts wüsste. Ich wüsste nicht einmal, wie es zustande gekommen war. War ich einverstanden. War ich dagegen. Ich war wahrscheinlich so besoffen, dass man mit mir machen konnte, was man wollte. Ein bisschen Dormalon. Dormikum. Eatan. Imeson. Novanox. Oder so. Das Pflaster von der Injektion hatte ich ja noch in der Armbeuge. Aber ich hätte es dann genauso gemacht wie meine Mutter. Es hätte zumindest genauso ausgesehen. Das macht mich mehr fertig als alles andere. Diese Frage. Am Ende steigt einem dann auch noch die Sorge auf, dass dieser Mann der unbekannte Vater sein könnte. Der von mir. Das immerhin nicht. Das wissen wir jetzt genau. Das wäre dann so schlimm gewesen. Das kann ich mir gar nicht vorstellen. Aber die Angst. Die hatte ich schon.«
    Sie lehnte mit dem Rücken gegen das Fenster. Sie hatte geschwitzt. Trotz der Klimaanlage. Die Scheibe drückte den feuchten Stoff ihres Sommerkleids gegen die Haut. Sie ging zur Tür. Stand da. Horchte. Stille. Sehr weit weg Geräusche. Aber ungenau. Nur die Welt.
    Sie setzte sich wieder. Der Widerschein von draußen. Die Gestalt der Frau im Bett schattig. Sie atmete leiser. Sie dachte, die Tante Trude atmete leiser. Selbstverständlicher. Sie beugte sich vor.
    »Das Schönste war das Nachhausefahren. Wenn du dann wieder da warst und wieder geredet wurde. Der Onkel. Der hat ja nichts gesagt. Wenn du weg warst. Dann ist der verstummt. Wir sind da gegangen und haben nichts geredet. Das war auch schön. Versteh mich richtig. Es gab nur so ein Gegrunze. Ein Grunzer, und wir wussten, dass wir eine Pause machen sollten. Jausnen. Und ein Grunzer, wenn es weitergehen sollte. Weißt du, du kannst nicht aufgeben. Der Onkel kann ja nur reden, wenn du dabei bist. Er hat zu reden begonnen, wenn er dich angerufen hat. Und wenn du dann gekommen bist und uns abgeholt hast. Dazwischen war es, als könnte er gar nicht sprechen. Für mich war das sehr gut. Ich muss so etwas wie ein kleines Hündchen gewesen sein. Am Anfang. Ein kleiner Hund, dem man Vertrauen beibringen muss. Ich durfte ja die Richtung bestimmen. Den ersten Schritt durfte ja ich bestimmen, und danach bin ich hinter dem Onkel hergelaufen. Trotzig. Immer trotzig. Bis der Trotz vor Müdigkeit vom Gehen keinen Platz mehr hatte. Und dann kamst du, und das war wie eine Erlösung. Reden und lachen und essen.«
    Die Stimme erstarb ihr. Sie hätte weinen können. Sie setzte sich auf. Sie hätte um sich geweint. Um die Person, die hinter diesem Pflegevater hinterhergetrottet war. Die alles gehasst hatte. Damals. Die nicht erwachsen werden hatte wollen, und warum auch. Sie hatte es der Tante Trude sehr schwergemacht.
    Sie stand auf. Holte das Mineralwasser vom Fensterbrett. Hielt die Flasche. Setzte sich wieder. Stand auf. Ging an die Tür. Singen. Sie hatte ein Bedürfnis zu singen. Sie hätte gerne etwas Beruhigendes gesungen. Es war ein schönes Bedürfnis. Sie setzte sich. Sie

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