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Die Schmerzmacherin.

Die Schmerzmacherin.

Titel: Die Schmerzmacherin. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlene Streeruwitz
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stellte die Flasche unter das Bett. Nahm die Hand der Tante und stellte sich vor zu singen. Ein Schlaflied. Ein Kinderlied.
    Musik. Das war nun auch ein Versäumnis. Die Umstände und das, was sie aus den Umständen mit sich machen hatte lassen. Es hatte nie zu regelmäßigen Klavierstunden geführt. Sie war eingeschrieben gewesen. In der Musikschule Stockerau. Sie hatte begonnen. Die Schottolas hatten ein Klavier ausgeborgt. Das Klavier war in das Wohnzimmer gestopft worden. Aber sie hatte nicht geübt. Warum hatte sie nicht geübt. Was war das gewesen. Sie hatte spielen können wollen. Es war auch klar gewesen, dass man dazu üben musste. Dass dieses komplizierte Ding gelernt werden musste. Sie hatte es sich sogar sehr gewünscht. Aber sie hatte nicht geübt. Sie war vor dem Klavier gesessen. Aber sie hatte nicht geübt. Was hatte sie davon abgehalten. Warum hatte sie sich um dieses Vergnügen gebracht. Um dieses Können. Nichts als Verschwendung. Und wie lange ging das noch. Wie lange musste sie nun vor den Klavieren sitzen und ihrer Behinderung zusehen. Ihrer Hemmung. Ihrem Nichtkönnen. Ihrer Leblosigkeit.
    Sie zog den Sessel hinauf. Näher zum Kopfende des Betts. Sie lehnte sich im Sessel zurück. Hielt die Hand der Tante. Schaute zum Fenster hinaus. So war das also. Sie war müde. Ausgelaugt. Das war das richtige Wort. Ausgelaugt. Es war nichts in ihr drinnen als so eine Blässe. Eine nebelig schmutzige Blässe. Draußen. Am Himmel. Ganz weit am Ende im Westen. Ein dünner heller Streifen. Allerletzte Reste von Sonne. Sie blieb sitzen. Die zwei Schritte ans Fenster hätten sie nicht näher gebracht. Wenn man rechtzeitig wegfuhr. Mit dem Auto. Mit dem Auto von Wien weg. Wenn man schnell vorankam. Dann konnte man dem Sonnenuntergang nachfahren. Bis München ging das gut. In München erreichte einen dann die Nacht ja doch. Aber der Streifen am Himmel vorne. Der war die ganze Zeit gleich breit. Eine Jagd nach dem Sonnenuntergang war das. Im Flugzeug ging das nicht. Da saß sie ja nicht im Cockpit. Seit sie nur noch Gangplätze vertrug, konnte sie im Flugzeug gar nichts mehr sehen.
    Sie schloss die Augen. Hielt die Hand. So war das alles. Weißtrübe Flecken. Dann Dunkelheit. Das Summen all der Maschinen rundherum. Ein vielstimmiges feines Gesumme rundherum. Das Atmen der Kranken. Ihr eigenes Atmen. Es passte sich dem Atem der Kranken an. Sie fand sich tief Luft holen. Die Helligkeit im Kopf verschwommener. Leichter. Die Hand in ihrer. Wenn es so sein musste. Sie war gekommen. Sie hatte die Tante erreicht. Das war das Wichtigste. Die Umstände. Darüber konnte sie sich später Gedanken machen. Erstaunlich war, dass sie das konnte. So einfach. Dass sie keinen Augenblick überlegen hatte müssen. Sie hätte gedacht, dass sie Ausflüchte finden würde. Dass sich ihr Ausflüchte anbiedern würden. Andere Verpflichtungen. Der Kurs in Nottingham. Die Marina in London. Sie hätte von sich gedacht, dass sie vor dem Sterben einer Person davonlaufen würde. Müsste. Dass sie dieses Leid vermeiden würde. Aber es war keinen Augenblick eine Frage gewesen. Ja. Sie dachte jetzt erst darüber nach. Sie öffnete die Augen. Schüttelte den Kopf. Die psychologische Evaluation. Ihre eigene psychologische Evaluation war nicht richtig gewesen. Sie schloss die Augen wieder. Das kam alles, weil sie keinen Grundkurs besucht hatte. Das kam alles davon, dass sie eine Surfermentalität hatte. Zu individualistisch. Die Ausbildner nannten es wahrscheinlich faul. Faulheit. Faul. Lazy. Sie war lieber lazy als faul. Lazy. Mit dem Wort. Da saß sie schon am Strand. Der heiße Sand oben. Das Hinterteil in die feuchte Kühle darunter eingegraben. Und hinausschauen. Die Wellen anschauen. Sich bei jeder Welle vorstellen, wie sie zu surfen wäre. Sie war eine Conceptsurferin. Sie stellte sich das mehr vor. Die anderen da. Die nannten sie auch lazy. Aber die konnten nicht wissen, dass sie selbst vom Meer nichts erwartete. Die waren alle so sicher, dass das Meer ihnen zu Verfügung sein musste. Dass es eine Welle gab, die ihnen gehörte. Das konnte sie sich nicht vorstellen. Deshalb ließ sie so viele aus. Aber deshalb konnte sie hier sitzen und musste nicht in Cape St. Francis abhängen. Oder in Jeffreys Bay. Mit Nadja und Emilio. Oder mit Mort.
    Fit wäre sie ja gewesen. Das immerhin. Sie musste laufen gehen. Am besten noch in der Nacht. Wenn der Onkel sie abgelöst hatte. In Wien konnte man in der Nacht laufen gehen. Das ging sonst nirgends. Sie

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