Die Schnapsstadt
Mit vollendeter Eleganz trankst du noch ein Schälchen Schnaps. Die junge Dame aus der Verschnittabteilung füllte graziös nach. Ich schenke mir mit müder Hand nach. Schnaps war die Muse des großen Dichters Li Bai. Aber Li Bai ist nichts gegen mich. Er musste für seinen Schnaps bezahlen, ich nicht. Ich kann das frische Destillat direkt aus dem Labor beziehen. Li Bai war ein Meister der Dichtung, und ich bin nur ein freischaffender literarischer Amateur. Der Stellvertretende Vorsitzende des Schriftstellervereins bedrängt mich, über die Aspekte des Lebens zu schreiben, mit denen ich vertraut bin. Ich bringe ihm häufig einen Teil des Alkohols mit, den ich im Laboratorium abzweige. Er würde mich nicht belügen. Wie weit bist du mit deinem Vortrag? Lasst uns die Ohren spannen und unsere Energie sammeln. Die Studenten gleichen neunhundert munteren kleinen Eseln.
Kleine Esel. Der Gesichtsausdruck des Gastprofessors Jin Gangzuan, unseres Stellvertretenden Abteilungsleiters, und seine Gestik unterscheiden sich kaum von der der kleinen Esel. Er sieht einfach süß aus, wie er da oben auf seinem Katheder steht, die Arme schwenkt und umhertänzelnd seine Rede hält:
Mein Verhältnis zum Alkohol ist vierzig Jahre alt. Vor vierzig Jahren wurde unsere Volksrepublik gegründet. Was für ein Monat der Freude für uns alle! Das war die Zeit, als ich gerade begann, im Uterus meiner Mutter Wurzeln zu schlagen. Soweit ich weiß, taten meine Eltern im entscheidenden Moment nichts anderes als alle anderen: Sie taten es verzaubert, hingerissen und verwirrt bis an die Grenze des Wahnsinns. All ihre Freuden gingen über in einen Zustand ungezügelter Ekstase, einen Rausch, als regne es Blüten vom Himmel. Also bin ich ein Produkt, oder vielleicht auch nur ein Nebeneffekt, der Ekstase. Kommilitonen! Wir alle kennen den Zusammenhang zwischen Ekstase und Alkohol. Es ist nicht wichtig, dass der Karneval mit den Festen des Weingotts zusammenfällt. Es ist nicht wichtig, dass Nietzsche am Festtag des Weingotts zur Welt kam. Wichtig ist nur, dass mein lebenslanger Kontakt mit dem Alkohol durch die Vereinigung des ekstatischen Samens meines Vaters mit einer ekstatischen Eizelle meiner Mutter determiniert wurde. Er entfaltete einen Zettel, den man ihm aufs Katheder gereicht hatte, und las. Ich bin ein ideologischer Kämpfer für die Partei, verkündete er tolerant und großmütig, wie könnte ich ein Vertreter des Idealismus sein? Ich bin Materialist vom Scheitel bis zur Sohle. Immer werde ich die Flagge hochhalten, auf der in goldenen Schriftzeichen zu lesen ist: «Materie vor Geist: Das Sein bestimmt das Bewusstsein.» Auch wenn er in der Ekstase entsteht, ist der menschliche Samen reine Materie. Und folgen wir der Logik dieses Gedankens, ist dann nicht auch die Keimzelle der Ekstase die Materie? Oder, anders gesehen: Können Menschen im Zustand der Ekstase ihr Fleisch und ihre Knochen verlassen und sich in reine Geistwesen verwandeln, die in alle Himmelsrichtungen davonschwirren? Also, liebe Kommilitonen, Zeit ist kostbar, Zeit ist Geld, Zeit ist das Leben selbst, und wir dürfen nicht anfangen, uns wegen einer simplen Frage im Kreise zu drehen. Heute um die Mittagsstunde werde ich in Anwesenheit unserer Wohltäter, unserer Landsleute aus Amerika und unserer Brüder aus Hongkong und Macau das Erste Jährliche Affenschnaps-Festival eröffnen. Für unsere Gäste ist nur das Beste gut genug.
Als Jin Gangzuan das Wort Affenschnaps erwähnte, sah ich von meinem Platz hinten im Hörsaal, wie sich im Nacken des Ehemannes meiner Schwiegermutter der Deltamuskel anspannte und rötete. Der alte Knabe hatte den größten Teil seines Erwachsenenlebens mit sabbernden Lippen von diesem einmaligen, wunderbaren, legendären Schnaps geträumt. Wenn sich die Legende vom Affenschnaps in flüssige Realität verwandelte, würde für die zwei Millionen Einwohner von Jiuguo ein Traum wahr werden. Mit reichlichen Subventionen aus öffentlichen Kassen war eine Arbeitsgruppe gegründet worden. Der alte Knabe war der Chef der Arbeitsgruppe. Wessen Deltamuskel sollte sich wohl spannen, wenn nicht der seine? Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, aber ich glaube, ich weiß, was für ein Gesicht er machte.
Kommilitonen! Lasst dieses überwältigende Bild vor eurem inneren Auge Gestalt annehmen. Eine Schar ekstatischer Spermien stürmt mit flatternden Geißeln wie eine Horde wilder Krieger eine Festung. Oder vielleicht sind sie zwar in wilder Ekstase gefangen, aber ihre
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