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Die Schnapsstadt

Die Schnapsstadt

Titel: Die Schnapsstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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er uns in sein Heimatdorf führte, trug er eine zerschlissene Leinenjacke.
    Es war eine kalte Winternacht. Die Mondsichel und die Sterne am klaren Himmel beleuchteten die Straßen und Häuser, die verdorrten Äste und Blätter der Weiden und die Pflaumenblüten in Jin Gangzuans Heimatdorf. Schwerer Schnee war gefallen, und kurz danach hatte sich die Sonne zweimal gezeigt und hatte den Schnee schmelzen und wieder gefrieren lassen. Eiszapfen hingen von den Dachbalken und strahlten unter dem natürlichen Licht des Himmels ihren eigenen schwachen Glanz aus. Der Schnee auf den Dächern und auf den Spitzen der Zweige glänzte ebenfalls. Wie Abteilungsleiter Jin sie beschrieb, war die Winternacht nicht besonders stürmisch. Das Eis auf dem Fluss zerbarst und sprang unter dem Ansturm der einmaligen Kälte. Das Klirren der Eisschollen schallte wie Gewehrschüsse durch die Nachtluft. Die Nacht wurde immer stiller und stiller. Das Dorf schlief, das Dorf da draußen nahe bei den Vorstädten unseres geliebten Jiuguo. Eines Tages werden wir im VW Santana des Stellvertretenden Abteilungsleiters einen Ausflug zu den heiligen Orten und Gedenkstätten seiner Jugend machen. Jede Bergeshöhe, jeder Fluss und jeder See, jeder Grashalm und jeder Baum wird unsere Verehrung für den Stellvertretenden Abteilungsleiter Jin Gangzuan ins Unermessliche steigern. Wie nah wir uns ihm fühlen werden! Er kam in einem verarmten und verfallenen Dorf zur Welt und stieg langsam, aber stetig zum Himmel empor, bis er als strahlender Stern des Alkohols über ganz Jiuguo strahlte. Die Helligkeit des Feuers, das in ihm lodert, blendet uns und treibt uns die Tränen in die Augen. Was für Gefühle wir empfinden! Eine zerbrochene Wiege bleibt immer eine Wiege, und nichts kann sie ersetzen. Und alle Zeichen weisen darauf hin, dass sich vor Abteilungsleiter Jin höchstwahrscheinlich eine unbegrenzte Zukunft erstreckt. Wenn wir den Spuren Jin Gangzuans folgen, eines Kaders, der in die höchsten Führungsebenen aufgestiegen ist, wenn wir durch die Straßen und Gassen seines Heimatdorfs wandern, wenn wir an den Ufern seiner murmelnden Bäche verweilen, wenn wir im Schatten der Bäume seiner Alleen wandeln, wenn wir an seinen Weiden und Viehställen vorbeischlendern, wenn die Sorgen und Freuden seiner Kindheit, seine Lieben und seine Träume unser Herz wie vorübertreibende Wolken und strömendes Wasser durchfluten, können wir dann seine Gefühle nachempfinden? Wie geht er? Was für ein Gesicht macht er? Fängt er beim Gehen mit dem rechten oder dem linken Fuß an? Was tut sein linker Arm, wenn sein rechtes Bein voranschreitet? Wie steht es um seinen rechten Arm, wenn sein linkes Bein voranschreitet? Wie riecht sein Atem ? Wie hoch ist sein Blutdruck? Wie schnell ist sein Pulsschlag? Zeigt er die Zähne, wenn er lächelt? Rümpft er die Nase, wenn er weint? Es gäbe so vieles zu beschreiben, und mein Wortschatz ist so klein! Ich kann nur das Schnapsschälchen auf ihn erheben.
    Draußen im Hof krachten und knackten schneebeladene Äste. Das Eis auf dem fernen Teich war einen Meter dick. Trockenes Eis bedeckte die Schilfstauden. Wildgänse und Hausgänse, die sich zur Nachtruhe gelegt hatten, wurden aus dem Schlaf gerissen und schnatterten hell. Die kalte, klare Nachtluft trug ihren Ruf bis ins Ostzimmer des Hauses von Jin Gangzuans Siebtem Onkel. Abteilungsleiter Jin sagte, er sei jeden Abend zum Haus seines Siebten Onkels gegangen und habe dort übernachtet. Die Wände waren tiefschwarz, eine Öllampe stand auf dem alten Tisch mit den drei Schubladen an der Ostwand. Siebte Tante und Siebter Onkel saßen auf dem gemauerten Bett. Am Bettrand saßen der kleine Ofensetzer, der Große Liu, Fang Neun und Ladenbesitzer Zhang und vertrieben sich die lange Nacht hindurch die Zeit. Sie kamen jeden Abend, weder Sturmwehen noch Schneefall konnten sie abhalten. Sie erzählten, was sie heute getan hatten, trugen die Neuigkeiten, die sie in Weilern und Dörfern gehört hatten, mit all ihren reichen, lebendigen Einzelheiten voll von Witz und Humor weiter und malten ein umfassendes Bild von Leben und Sitten auf dem Lande, ein Leben voll von literarischem Reiz! Die Kälte kroch wie eine Wildkatze durch den Türspalt und nagte an seinen Füßen. Er war nur ein Kind und konnte sich keine Strümpfe leisten. Seine schwarzen, schrundigen Füße zogen sich in den Sandalen von Binsenstroh zusammen. Gefrorene Schweißtropfen überzogen seine Fußsohlen und den Raum zwischen seinen Zehen mit

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