Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Schnapsstadt

Die Schnapsstadt

Titel: Die Schnapsstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
Vom Netzwerk:
nicht um die Nachwirkungen seines Alkoholgenusses gegangen, hätte sich auch Yu Yichi nicht im Freien aufgehalten. Die Straße, auf der sich die Menschen noch vor kurzem wie Ameisen gedrängelt hatten, war zu einer Insel der Ruhe geworden. Nur das schrille Zirpen der Insekten durchbrach grell genug, um Bronzemauern und Eisenschranken zu durchbohren, die nächtliche Stille. In der kühlen Brise, die über seinen rundlichen Bauch fuhr, verspürte Yu Yichi ein stilles Glück. Den Blick auf große und kleine blütengleiche süße Granatäpfel gerichtet, war er gerade dabei einzuschlafen, als er plötzlich fühlte, wie sich seine Kopfhaut zusammenzog und eine Gänsehaut seinen ganzen Körper überflog. Seine Müdigkeit verschwand ruckartig, und sein Körper erstarrte, als hätte ihm ein Kung-Fu-Meister einen Schlag ins Zwerchfell versetzt. Natürlich blieb sein Geist ungetrübt, und seine Augen nahmen alles auf. Ein schwarzer Esel erschien mitten auf der Straße, als sei er vom Himmel gefallen. Es war ein stämmiges kleines Tier, und sein Körper leuchtete, als bestünde er aus Wachs. Der Esel wälzte sich auf der Straße und stand dann auf und schüttelte sich, als wolle er eine unsichtbare Staubschicht abschütteln. Dann sprang er mit hoch erhobenem Schwanz in die Luft und fing an zu galoppieren. Er galoppierte so schnell dreimal vom Ostende der Gasse zum Westende und wieder zurück, dass er aussah wie eine schwarze Rauchwolke. Der helle Klang seiner Hufe übertönte das herbstliche Zirpen der Insekten. Als er innehielt und in der Straßenmitte stehen blieb, begann das Zirpen erneut. Jetzt hörte Yu Yichi das Bellen der Hunde auf dem Hundemarkt, das Blöken der Kälber in der Rinderstraße, das Klagen der Lämmer, die in der Schafsgasse nach ihren Müttern riefen, das Wiehern von Ponys in der Pferdeallee und Hühnergegacker von allen Seiten: gack – gack – gack. Der kleine schwarze Esel blieb abwartend in der Straßenmitte stehen. Seine schwarzen Augen glühten wie Laternen. Yu Yichi kannte die Legenden über diesen kleinen schwarzen Esel, aber als er ihn jetzt mit eigenen Augen sah und erkennen musste, dass Legenden nicht nur Luftgespinste sind, erschrak er zu Tode. Er hielt den Atem an und machte sich noch kleiner, als er ohnehin schon war. Bis auf seine weit aufgerissenen Augen sah er aus wie ein Stück Holz. Er saß ganz still da und wartete ab, wie die Geschichte mit dem kleinen schwarzen Esel weitergehen würde.
    Stunden vergingen. Yu Yichis Augen brannten vor Müdigkeit, aber der kleine schwarze Esel stand immer noch unbeweglich wie eine Statue mitten auf der Straße. Dann fingen plötzlich und ohne Vorwarnung alle Hunde von Jiuguo auf einmal an, wie wild zu bellen – das geschah natürlich alles in der Ferne –, und rissen Yu Yichi aus seiner Versenkung. Wieder wach, hörte er Schritte, die über den Dachziegeln näher kamen. Unmittelbar danach sah er eine dunkle Gestalt, die von einem nahen Dach auf die Straße herabzuschweben schien. Sie sprang auf den wartenden Rücken des kleinen schwarzen Esels, und der galoppierte zu neuem Leben erwacht in Windeseile von dannen. Da Yu Yichi ein Zwerg war, hatte er nicht die Möglichkeit gehabt, eine Schule zu besuchen, aber da er aus einer gebildeten Familie stammte – sein Vater war Professor gewesen, sein Großvater hatte die Beamtenprüfung bestanden, und in früheren Generationen hatten einige seiner Vorfahren die Abschlussprüfung der Kaiserlichen Akademie abgelegt und waren selbst zu Mitgliedern der Akademie ernannt worden –, hatte er Tausende von Schriftzeichen auswendig gelernt und vieles gründlich gelesen. Die Szene, zu deren Zeugen er soeben geworden war, erinnerte ihn an eine Erzählung aus der Tang-Zeit über einen schattenhaften fahrenden Ritter. Dann wandte sich sein Geist philosophischen Fragen zu: Trotz der raschen Entwicklung der Naturwissenschaften gibt es immer noch zahllose Phänomene, die sich jeder Erklärung verweigern. Er überprüfte seine körperlichen Funktionen: Obwohl er sich ein bisschen steif fühlte, konnte er sich immer noch bewegen. Er strich sich über den Bauch: Der war feucht von kaltem Schweiß. Als die dunkle Gestalt im Licht des Herbstmonds zur Erde herabschwebte, hatte Yu Yichi gesehen, dass es sich um einen klein gewachsenen jungen Mann handelte, dessen Körper mit einer Schuppenhaut bedeckt war, die im Mondlicht glitzerte. Der Jüngling hielt ein Schmetterlingsmesser zwischen den Zähnen und hatte ein Bündel auf den

Weitere Kostenlose Bücher