Die Schnapsstadt
vor nicht allzu langer Zeit hast du meine Erzählungen Alkohol, Fleischkind und Wunderkind gelesen. Bitte, nimm nun meine nächste Gabe entgegen. Ihr Titel ist Eselsgasse, und ich bitte um deine Aufmerksamkeit und deine Geduld. Die überflüssigen Einleitungsfloskeln, die du soeben gelesen hast, gehören nach Meinung der Literaturkritiker nicht in einen belletristischen Text, weil sie die Einheit und Integrität des Werks zerstören. Aber da ich Doktorand der Alkoholkunde bin, da ich jeden Tag Alkohol sehe, Alkohol höre, Alkohol rieche, Alkohol trinke, Alkohol umarme, Alkohol küsse, Schulter an Schulter mit Alkohol marschiere, da für mich jeder Atemzug ein Prozess der Fermentation ist, verkörpere ich den Charakter und das Temperament des Alkohols. Was heißt das? Das heißt: Der Alkohol inspiriert mich, und in meiner Begeisterung bin ich nicht mehr imstande, mich an Regeln und Gesetze zu halten. Der Alkohol hat einen wilden, zügellosen Charakter. Sein Temperament lässt ihn sprechen, ohne groß nachzudenken.
Lieber Leser, nimm meine Hand und begleite mich auf meinem Weg. Gemeinsam wollen wir die Brauereihochschule von Jiuguo durch ihren reich geschmückten Torbogen verlassen, das flaschenförmige Hörsaalgebäude hinter uns lassen, das glasförmige Laboratoriumsgebäude hinter uns lassen und den berauschenden Duft der Gase hinter uns lassen, der aus dem Schornstein der hochschuleigenen Kellerei aufsteigt. «Legt eure Lasten ab und wandert mit leichtem Schritt.» Kommt und begleitet mich mit scharfen Augen und klaren Sinnen auf meinem Weg. Denn wir sind es, die wissen, wo wir sind und wohin wir gehen. Wir schreiten über die geschnitzte Pracht der kleinen Brücke aus Zedernholz über den Südweinfluss und lassen die rauschenden Wasser, die Wasserlilien, die auf ihnen treiben, die Schmetterlinge, die auf den Wasserlilien sitzen, die weißen Enten, die auf dem Wasser spielen, die Fische, die im Wasser schwimmen, die Empfindungen der Fische, die Gefühle der weißen Enten, die Wahrnehmungen der Entengrütze und den schläfrigen Monolog des strömenden Wassers hinter uns. Achtung! Wir nähern uns dem Hauptportal der Akademie für Kochkunst, das uns mit seinen aromatischen Düften verlocken will. Dies ist der Ort, an dem meine alternde Schwiegermutter gearbeitet hat, bis sie vor einiger Zeit den Verstand verlor und nach Hause geschickt wurde. Heute verbirgt sie sich Tag und Nacht hinter schwarzen Vorhängen und verbringt ihre ganze Zeit damit, Enthüllungs- und Anklagebriefe zu schreiben. Wir verlassen sie vorläufig und kümmern uns nicht um die aromatischen Düfte, die von der Hochschule für Kochkunst herüberwehen. Das Sprichwort sagt: «Vögel sterben auf der Suche nach Nahrung, der Mensch stirbt auf der Jagd nach Reichtum.» Dieses Sprichwort ist voll von zwingender und ewiger Wahrheit. In Zeiten der Wirrnis und Korruption gleichen die Menschen den Vögeln: Scheinbar sind sie so frei wie der Wind, aber in Wirklichkeit sind sie ständig von Fallen, Netzen, Pfeilen und Schusswaffen bedroht. Weiter! Der Duft der Speisen hat deine Nase verschmutzt. Halte dir also schnell die Hand vor die Nase und lass die Akademie für Kochkunst hinter dir. Folge mir den Hang hinab zur schmalen Hirschgasse, wo du den Brunftschrei der Hirsche hören kannst, die am Ufer neben der wilden Entengrütze äsen. Über den Türen der Geschäfte zu beiden Seiten der Gasse hängen Hirschgeweihe. Die scharfen Enden bilden einen Wald von Speeren oder einen Hain von Schwertern. Wir wandern über den alten, mit feuchten, moosbedeckten Steinen gepflasterten Pfad. Zwischen den moosüberwucherten Pflastersteinen sprießt das junge Gras. Geh vorsichtig, lieber Leser, pass auf, dass du nicht stolperst und fällst. Sorgsam und vorsichtig verfolgen wir unseren gewundenen Weg, bis wir zur Eselsgasse kommen. Auch hier ist die Straße unter unseren Füßen mit Steinen gepflastert, die im Lauf der Zeit vom Wehen des Windes, vom Trommeln des Regens, vom Rollen der Räder, vom Galopp der Hufe glatt geschliffen wurden. Ihre Kanten sind abgerundet. Ihr Pflaster ist so glatt wie ein bronzener Spiegel. Die Eselsgasse ist ein wenig breiter als die Hirschgasse, und ihr Pflaster ist mit schmutzigem, blutigem Wasser und dunklen Eselshäuten bedeckt. Außerdem ist sie schlüpfriger als die Hirschgasse. Ebenholzschwarze Krähen hinken krächzend über die Straße. Es ist eine gefährliche Gegend. Gib Acht und gehe nur da, wo du gehen sollst. Halte deinen Körper
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