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Die Schnapsstadt

Die Schnapsstadt

Titel: Die Schnapsstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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Rücken geschnallt …
     
    Lieber Leser, in meinem geistigen Ohr höre ich dich murren: «Warum hörst du nicht auf zu schwätzen und bringst uns irgendwo in eine Kneipe, statt uns in der Eselsgasse im Kreis herumlaufen zu lassen!» Natürlich ist dein Murren berechtigt, trifft genau ins Schwarze, trifft den Nagel auf den Kopf. Also lasst uns ein bisschen mehr Tempo vorlegen. Entschuldige, wenn ich dir nicht jeden Laden in der Eselsgasse einzeln zeige, auch wenn jeder davon seine eigene Geschichte und sein eigenes Schicksal hat. So schwer es mir auch fällt, ich werde den Mund halten. Also kümmern wir uns nicht um all die Esel, die uns von beiden Seiten der Straße her anstarren, und konzentrieren uns auf unsere Ziele. Es gibt zwei Arten von Zielen: Haupt- und Nebenziele. Unser Hauptziel ist der lange Marsch zum Kommunismus und seiner Maxime «Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen». Aber wenn wir uns ans Ende der Eselsgasse unter einen alten Granatapfelbaum begeben, erreichen wir unser Nebenziel:
    Yichis Taverne. Warum, wirst du fragen, heißt sie Yichis Taverne? Hör zu, und du wirst es erfahren.
     
    Der Besitzer der Taverne, den man «Yu Yichi» oder «Yu Fußhoch» nennt, ist in Wirklichkeit nicht genau einen Fuß groß, was dreiunddreißig Zentimeter ausmachen würde, sondern einen Fuß und fünf Zoll, und das macht neunundvierzigeinhalb Zentimeter. Wie die meisten Zwerge hat er noch niemandem verraten, wie alt er ist, und es wäre töricht, Vermutungen darüber anzustellen. Soweit man sich in der Eselsgasse zurückerinnern kann, haben sich über die Jahrzehnte hinweg weder Aussehen noch Verhalten dieses freundlichen und charmanten Zwergs je verändert. Erstaunte und verstörte Blicke beantwortet er mit einem immer gleich bleibenden süßen Lächeln. Sein Lächeln ist so hinreißend und entwaffnend, dass es jedes Herz höher schlagen lässt und ungeahnte Sympathien erweckt. Yu Yichi lebt nahezu ausschließlich von seinem Lächeln; und er lebt nicht schlecht davon. Er stammt aus einer Intellektuellenfamilie und ist sehr gebildet. Er verfügt über einen Vorrat an Wissen, der es ihm ermöglicht, die Leute in der Eselsgasse mit witzigen Bemerkungen zu unterhalten. Wie unerträglich einsam und langweilig wäre das Leben in der Eselsgasse ohne Yu Yichi, der, wenn er wollte, allein von seinem Witz und Charme leben könnte. Aber er ist von Natur aus ehrgeizig und hat sich immer geweigert, milde Gaben anzunehmen. Stattdessen hat er sich die neue Tendenz der Reform und Liberalisierung zunutze gemacht, um eine Gaststättenlizenz zu beantragen. Dann hat er einen Haufen Geld herausgezogen, das er seit wer weiß wann auf die hohe Kante gelegt hatte, und jemanden engagiert, um sein altes Haus zu Yichis Taverne umzugestalten. Die Taverne war bald in ganz Jiuguo bekannt. Wahrscheinlich haben ein alter Roman namens Blüten im Spiegel oder eine neuere Veröffentlichung namens Wunder aus Übersee ihn zu seinen zahlreichen originellen Einfällen inspiriert. Jedenfalls hat er, sobald die Taverne eröffnet war, eine Annonce im Anzeiger für Jiuguo geschaltet, in der er Personal suchte, das nicht größer als drei Fuß sein sollte. Die Anzeige erregte seinerzeit viel Aufsehen und löste hitzige Debatten aus. Einige Leute waren der Ansicht, ein Zwerg, der eine Taverne betreibt, sei eine Beleidigung für das sozialistische System und ein Flecken auf der hellen roten Flagge mit ihren fünf Sternen. Wenn der Fremdenverkehr in Jiuguo einmal zunahm, konnte Yichis Taverne leicht zu einem Schandfleck für unsere Stadt werden und Schande über das ganze chinesische Volk bringen. Andere meinten, die Existenz von Zwergen sei ein universelles objektives Phänomen. Während aber die Zwerge anderer Länder auf der Straße betteln müssten, um zu überleben, ernährten sich die unseren durch ihre eigene Arbeit, und das sei keine Schande, sondern ein Ruhmesblatt für unser Land. Yichis Taverne könne unsere Freunde aus dem Ausland von der unerreichbaren Überlegenheit des sozialistischen Systems überzeugen. Während die beiden Seiten noch in ihre endlosen hitzigen Debatten verstrickt waren, schlich sich Yu Yichi durch die Abwasserkanäle in den Hof des Rathauses. (Den Haupteingang konnte er nicht benutzen, weil die Wachtposten zu einschüchternd waren.) Dann schlich er sich ins Rathaus und ins Büro der Oberbürgermeisterin, mit der er eine lange Unterredung hatte, deren Inhalt hier nicht wiedergegeben werden kann. Die

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