Die schöne Ärztin
Cabanazzi aus seinem Versteck holen. Es gibt keinen anderen Weg mehr!«
»Er wird vor der Polizei nicht schweigen, Fritz. Er wird alles erzählen.«
Dr. Fritz Sassen verstummte. Einen Augenblick war er bereit, für die Ehre der eigenen Familie der Gerechtigkeit nicht ihren Lauf zu lassen. Dann aber siegte in ihm die Pflicht.
»Wir müssen auch das überstehen, Liebling«, sagte er entschlossen. »Es muß einmal alles ein Ende haben, und wenn es uns alle mitreißt. Ich weiß keinen anderen Ausweg mehr.«
Dr. Pillnitz war in blendender Laune. Auf seinen Krücken humpelte er ins Ordinationszimmer und setzte sich.
»Von neunzehn Kranken sind sechs übriggeblieben«, lachte er. »Kommt da einer und hat Bauchschmerzen. Ich frage ihn: Was gegessen? Und was sagt er? Pflaumenkuchen. ›Hau ab und furz einmal richtig!‹ hab ich da gesagt, und der Fall war erledigt. Liebe, schöne Kollegin, Sie sind zu mild mit den Burschen.«
»Wo kommen Sie eigentlich her, Bernhard?« fragte Waltraud Born, um Zeit zu gewinnen. Sie sah verstohlen auf die große elektrische Uhr an der Wand. Zehn Uhr vormittags. Bis 13 Uhr mußte alles vorbei sein, mußte die ›Bombe Pillnitz‹ entschärft werden.
»Aus der de la Camp'schen Klinik. Leute, habe ich gesagt, eure Kunst ist am Ende. Ich sehe es. Was soll ich noch hier? – Und wie Kollegen sind, sie haben mir schleunigst ein Taxi bestellt, um mich loszuwerden. Nun ist wieder Ruhe im Knochenhaus.«
»Das glaube ich«, lachte Waltraud. »Die werden froh sein.«
»Zweifelsohne.« Dr. Pillnitz klapperte mit seinen Krücken. »Das wird in Zukunft meine ständige Erkennungsmelodie sein. Hör, was klappert da so fein, das kann nur Dr. Pillnitz sein. – Ich stelle es als neuen Kinderabzählvers zur Verfügung.«
»Solange Sie so sarkastisch sein können, geht es Ihnen nicht schlecht.« Dr. Born lehnte sich an den Schreibtisch. »Was machen wir jetzt, Bernhard?«
»Wir verarzten die sechs Kranken und gehen dann essen. Ich habe einen wilden Hunger. Viermal habe ich der Schwester das Essen in den Nachttopf geschüttet: Kartoffelbrei mit Kalbsragout! Himmel und Arsch, habe ich gebrüllt, ich will ein Steak haben! Meine Zähne rosten ja ein!« Er seufzte, aber seine Augen lachten dabei. »Nun bin ich dem endlich entronnen. Ich sehne mich nach einem Sauerbraten mit Klößen. Fahren wir nach Gelsenkirchen, schönes Mädchen?«
»Daran habe ich auch gedacht.«
»Also los! Die sechs sollen hereinmarschieren. Sie untersuchen sie, ich verbinde … das geht wie das Brezelbacken.«
Eine Stunde später fuhren sie mit einem Mietwagen aus dem großen Tor der Zeche Emma II. Über dem Förderturm und auf dem Verwaltungsgebäude wehten noch immer die schwarzen Fahnen. Der Betriebsrat hatte sich geweigert, die Fahnen nach der Beerdigung der Toten einzuziehen. »Es liegen noch zweihundert im Berg«, hatte der Vorsitzende zu dem Betriebsleiter gesagt. »Wenn einer die Fahnen herunterholt, schlagen wir ihn krankenhausreif!«
Das war die neue Sprache in Buschhausen. Die Sprache einer Revolution, die schon lange geschwelt hatte.
Dr. Fritz Sassen und die Polizei kamen zu spät.
Die halbverfallene Gartenlaube am Steinbruch im ›Bergener Bruch‹ war leer. Spuren und die zurückgelassenen Lebensmittel bewiesen, daß Luigi Cabanazzi noch vor wenigen Stunden hier gehaust hatte. Sein Aufbruch mußte plötzlich erfolgt sein, völlig überstürzt, denn er hatte sich nicht einmal die Zeit genommen, ein angebissenes Wurstbrot zu Ende zu essen.
Die Polizeibeamten suchten die Umgebung ab, den Steinbruch, die verwilderten, verwucherten Gärten, die anderen Gartenhäuschen. Dann wurde die Hütte amtlich geschlossen und versiegelt.
»Er ist gewarnt worden«, sagte der Polizeimeister, der den Einsatz leitete. »Sehen Sie mal hier, frische Autospuren vor dem Garten, die zur Chaussee führen. Jemand, der motorisiert war, hat ihn weggebracht. Wir werden in wenigen Stunden wissen, welcher Reifentyp es war. Der Profilabdruck im weichen Boden ist ganz deutlich.«
Dr. Fritz Sassen brauchte das Ergebnis der kriminaltechnischen Untersuchung gar nicht abzuwarten. Er wußte, zu welchem Wagen diese Reifen gehörten. Aber er schwieg. Vielleicht ist es besser so, dachte er nun wieder und hatte das Gefühl, aufatmen zu können. Der Tod von 200 Bergleuten blieb so zwar ungesühnt, aber wenn man Cabanazzi wirklich verurteilt hätte, wären die armen Kerle da unten davon auch nicht wieder lebendig geworden.
Im Mannschaftswagen der Polizei
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