Die schöne Ärztin
Holtmann alle Mühe hatte, sich in dem Wust von Worten und Beschimpfungen zu behaupten.
Zur Hilfe kam ihm sein Schwager, der Bruder seiner Frau Elsi, der gute Onkel Borczawski. Onkel Lorenz, ehemals Hauer und durch Steinstaublunge Invalide geworden, hatte schon immer eine Schwäche für Juristerei gehabt. In seiner aktiven Bergmannszeit hatte er als Schrecken der Betriebsleitung gegolten, denn wenn es Beschwerden gegeben hatte, waren sie durch den Mund des Lorenz Borczawski vorgetragen worden. Und nicht etwa polternd und primitiv, im Gegenteil, mit aller Raffinesse und versehen mit halbjuristischen Kommentaren. Man hatte dann immer Mühe gehabt, sich durch das juristische Beiwerk der Beschwerde hindurchzubohren, ehe man an den Kern der Sache kam.
Onkel Lorenz sah seine große Stunde gekommen. Von morgens um 9 bis mittags um 12 und nachmittags von 3 bis gegen 7 Uhr abends residierte er in Holtmanns Häuschen und entlastete seinen geplagten Schwager, indem er die Anträge ›bearbeitete‹. Das geschah immer in einer freien Honorarvereinbarung, die Onkel Lorenz sehr am Herzen lag: Ein leichter ›Fall‹ kostete drei Korn, ein mittlerer Fall fünf, ein schwerer eine halbe Flasche.
Und so saßen in Elsis Küche ständig fünf oder sechs Mann herum, mit Kornpullen in der Tasche, nahmen ab und zu einen Schluck, um die innere Erregung zu dämpfen, und marschierten dann zu Onkel Lorenz ins Wohnzimmer. Dort wurden sie beraten, wurden ihre Anträge angenommen, wurde das Honorar beglichen. Gegen Mittag und vor allem am Abend, nach Schließung der ›Praxis‹, war Onkel Lorenz dann jedesmal so weit, daß er laut über seine Kreislaufstörungen klagte und schwankend nach Hause gebracht werden mußte.
»Ich wandere aus!« schrie Hans Holtmann, als nach dem Kumpelmarsch von Buschhausen sich die Anträge häuften. Ein Versuch, die Bittsteller hinauszuwerfen, scheiterte kläglich. Man nannte Hans Holtmann unsozial, einen Knecht der Zechenherren, verdorben durch die Sektgelage bei diesen, einen Verräter und Arschkriecher. Das letzte Schimpfwort vor allem bewog Holtmann, weiter zu leiden. Er ertrug den saufenden Onkel Lorenz, den Schmutz, den täglich dreißig oder vierzig Paar Stiefel in sein Haus trugen, er ertrug sogar, daß fröhliche Klienten beim Hinausgehen Elsi Holtmann in den Hintern kniffen (sie war ja mit ihren 45 Jahren noch eine stattliche Frau), nur als man begann, seine Tauben vollgefressene Spatzen zu nennen, war er nicht mehr zu halten und unterband rigoros die Praxis des Privatjuristen.
Immerhin hatte diese Sammlung von Anträgen etwas Gutes. Zunächst hatte Dr. Fritz Sassen abgewunken. »Alles dummes Zeug!« sagte er zu Kurt Holtmann, der mit dem ersten Stapel zu ihm kam. »Nun denkt jeder, er könne seinen jahrelangen Groll abladen. Dem einen gefällt die Nase des anderen nicht, also wird dieser denunziert. Dem anderen die Schweißfüße. In den Papierkorb damit!«
Bei genauer Durchsicht stellte sich allerdings heraus, daß von fünfzig Beschwerden doch einige begründet waren und Vorkommnisse aus dem Zechenbetrieb geißelten, die man nicht kannte und die es wert waren, aufgegriffen zu werden.
Da wurde von einem Steiger berichtet, der sich auffällig um die Berglehrlinge kümmerte und in der Waschkaue immer in deren Nähe war. Von Gefahrenquellen war die Rede, von Kabeln, die ungeschützt im Stollen hingen, von einem Abräumhobel, bei dem schon dreimal die Kette gerissen war und der trotzdem nicht herausgezogen wurde, sondern notdürftig geflickt weiterschürfte, von zwei Steigern, die unter Tage wie kleine Könige herrschten und ihre Favoriten am Transportband einsetzten, während die, die ihre Schnauze aufrissen, mit dem Preßluftbohrer vor Ort gehen mußten. Sogar eine Beschwerde über Dr. Pillnitz war dabei. Er hatte zu einem Kumpel, der mit einem gebrochenen Zeigefinger zu ihm gekommen war, gesagt: »Gustav, das nächstemal steckste beim Popeln den Finger nicht so tief rein, daß er abbricht.« An den Rand dieser Beschwerde hatte Onkel Lorenz mit Rotstift geschrieben:
»Krasser Fall von Mißachtung unserer Würde. Darf der Arbeiter von den Akademikern gedemütigt werden?«
»Typisch«, sagte Dr. Fritz Sassen lachend. »Dieses Dokument geben wir an Dr. Pillnitz weiter. Er wird sich mit Onkel Lorenz selbst darüber unterhalten.«
Vier Beschwerden waren allerdings massiv und beschäftigten sich mit der Zechenleitung. Sie erhoben Anklage, daß das schlagende Wetter allein Schuld der mangelnden Aufsicht
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