Die schöne Ärztin
bezahle sie. Soll ich den Leuten, die von mir leben, in den Hintern kriechen? Ich werde höchstens Emma II schließen und sie alle auf die Straße setzen.«
»Man würde Sie zerreißen!«
»Dagegen gibt's Schutzmöglichkeiten.« Dr. Vittingsfeld lächelte böse. »Herr Bierlich, Sie sprechen gleich zu den Hohlköpfen und sagen ihnen, daß die 1,2 Millionen für sie, allein nur für ihre Sicherheit verwandt werden. Wir können das ganze Geld auch an die 230 Familien ausschütten, natürlich. Aber dann wird sich in 1.000 anderen Familien Neid regen. Sagen Sie das den Kumpels ruhig in ganz klarer Form, sonst verstehen die das nicht. Mein Gott, daß man hier den Sonntag vertrödeln muß, meine Zeit ist dafür viel zu kostbar. Es ist wirklich zum Kotzen mit gewissen demokratischen Freiheiten.«
In der Halle II brodelte es wie in einem Hochofen.
Dr Fritz Sassen hatte die Spendenzahlen verlesen und die Vorschläge der Zechenleitung bekanntgegeben, was mit den Spenden geschehen sollte. Und noch etwas kam dabei an den Tag: Die italienischen Toten sollten von den deutschen Toten getrennt werden. Sie lagen zwar nebeneinander auf einem Teil des Buschhausener Friedhofs in einer Art Ehrengrab, aber die Entschädigung der Italiener sollte nicht aus deutschen Spendeneingängen erfolgen, sondern aus einem Katastrophenfonds des Bergbaues. Um diese Gelder aber freizumachen, würde es – wieder nach bewährter deutscher Verwaltungsart – mindestens ½ Jahr dauern, wenn nicht länger. Allein die Bearbeitung der Anträge würde sehr lange dauern, da man über das italienische Arbeitsministerium erst genaue Nachforschungen über Kinderzahl und soziale Lage der Familien der Toten im Heimatland anstellen mußte.
»Jagt die Zechenherren aus ihren Villen!« schrie jemand aus der geballten, wütenden Menge von 2.000 Leibern. »Wer bezahlt ihnen denn die Partys und Jagdgesellschaften? Wer hält für sie die Knochen hin? Wir lassen uns nicht länger auf den Arm nehmen! Wir wollen unser Recht!«
Es war der Augenblick, in dem der arme Betriebsführer Theo Bierlich das Podium betrat und sich neben Kurt Holtmann und Dr. Sassen stellte. Ein wildes Pfeifkonzert empfing ihn, die Mauer der Leiber drängte nach vorn, aufgerissene Augen, schreiende Münder machten ihm angst. Ein Wald von hochgereckten Armen, von Fäusten, die geschüttelt wurden, bedrohte ihn. Theo Bierlich wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn.
»Leute«, sagte er laut ins Mikrophon. Weiter kam er nicht. Ein zweitausendstimmiges Aufbrüllen übertönte ihn.
»Abtreten! Komm runter, du Lump! Holt ihn vom Podium!« schrie es um ihn herum. Theo Bierlich hob beide Hände, es war eine rührend flehende Gebärde einem Taifun gegenüber.
»Leute!« rief er noch einmal und umklammerte den Mikrofongalgen. »Ich bin doch einer von euch! Ich kann euch doch nur sagen, was man mir aufgetragen hat! Ich kann doch nichts dafür! Seid doch vernünftig!«
»Holt den Idioten runter!« schrie jemand. »Der hält es doch nur mit den Reichen!«
Die Leiberwoge brandete gegen das Podium. Theo Bierlich sah sich hilfesuchend um. Dr. Fritz Sassen und Kurt Holtmann hatten starre Gesichter. Sie waren entsetzt. Der Sturm war nicht mehr aufzuhalten. Es ging ihnen wie dem Zauberlehrling in Goethes Gedicht … die Geister, die sie gerufen hatten, wurden sie nun nicht mehr los. Die 2.000 brüllenden Kumpels entglitten ihrer Kontrolle, ihrem Einfluß. Die Halle wurde zur Arena. Man wollte ein Opfer haben. Urinstinkte siegten.
Die einzige Möglichkeit, sich zu retten, war die, die Flucht zu ergreifen. Theo Bierlich, Fritz Sassen und Kurt Holtmann nützten sie. Schleunigst verließen sie das Podium und setzten sich durch die Meisterkabine ins Freie und hinüber zum Betriebsbüro ab.
Eine Minute später war das Podium Kleinholz. Die schwarzen Fahnen wurden abgerissen, die schwarzen Behänge zerfetzt, Nägel und Hämmer waren plötzlich da, und aus Stangen und den schwarzen Tüchern entstanden im Handumdrehen Fahnen.
Dann marschierten sie los, vorneweg die Knappenkapelle, dann die Uniformierten, hinter ihnen die Fahnenträger und die 2.000 Kumpels, im Sonntagsanzug, aber mit heißen Köpfen und gelockerten Schlipsen. Sie sangen aus voller Kehle das ›Glück-auf-Lied‹, marschierten durch die Anlagen der Zeche Emma II, blieben vor der Verwaltung stehen und brüllten im Chor: »Wir wollen unser Recht!« und zogen dann weiter, hinein nach Buschhausen, ein Trauerzug, der heiß war wie ein
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