Die schöne Ärztin
gewesen sei.
Dr. Vittingsfeld ließ Kurt Holtmann länger als drei Stunden im Vorzimmer warten, bis er ihn vorließ. Die Sekretärinnen in dem Verwaltungspalast in Gelsenkirchen tuschelten schon, denn man wußte ja, daß bei Vittingsfeld kein anderer Besucher war, daß er keine Konferenz abhielt, sondern daß er diese drei Stunden verbissen absaß, rauchte, in seinem riesigen Zimmer spazierenging, aus dem Fenster guckte, die Zeitungen las, auf dem Plattenspieler den I. Satz einer Beethoven-Sinfonie anhörte und schließlich telefonisch mit anderen Direktoren sprach, nur um die Zeit herumzukriegen.
Als er nach drei Stunden dachte, daß dies genug sei, ließ er Kurt Holtmann zu sich bitten. Mit unbewegtem Gesicht empfing er ihn.
»Sie müssen entschuldigen«, sagte er, »daß ich Sie so lange warten ließ. Sie wissen ja, der Terminkalender ist voll, und wenn jemand unangemeldet kommt, ist es schwer, eine Lücke zu finden. Ich habe auch jetzt nur ein paar Minuten Zeit. Gehen wir gleich zur Sache. Was gibt's?«
»Unangenehmes, Herr Generaldirektor.«
»Ich möchte sagen: Anderes bin ich auch nicht von Ihnen gewohnt.«
»Es liegen unserem Verband einige Schriftstücke vor, die wir Ihnen zur Einsichtnahme empfehlen.« Kurt Holtmann legte einen dünnen Schnellhefter auf den Tisch. Dr. Vittingsfeld musterte ihn mißtrauisch.
»Haben Sie schon mit Ihrem Schwiegervater in spe darüber gesprochen?«
»Ja. Aber er meint, er sei nicht mehr im Dienst. Emma II ginge ihn nichts mehr an.«
»Na ja.« Dr. Vittingsfeld hob die Augenbrauen. Sein ›na ja‹ drückte die ganze Mißbilligung aus, die er empfand. »Was ist es denn?«
»Beweise, daß das Unglück auf Emma II auf ein Verschulden der Leitung zurückzuführen ist.«
»Schon wieder dieser alte Hut!« Vittingsfeld schob den Schnellhefter von sich, als stinke er.
»Der alte Hut hat mehr als 200 Familienvätern das Leben gekostet. Vier ringen noch mit dem Tode. Sie haben Verbrennungen dritten Grades.«
»Für die Familien ist gesorgt.«
»Wenn das Ihre ganze Antwort ist, kann ich ja wieder gehen.«
Vittingsfeld sah Kurt Holtmann kurz an, erhob sich und marschierte dann um seinen Schreibtisch herum ans Fenster. Er drehte Holtmann unhöflich den Rücken zu und sagte:
»Über Schuld oder Nichtschuld ist genug gesprochen worden. Es hat auch Untersuchungen gegeben. Dabei hat sich herausgestellt, daß das Unglück durch eine Verkettung unglücklicher Umstände entstanden ist, vor allem aber durch den sträflichen Leichtsinn eines italienischen Gastarbeiters. Wie kann man die Leitung verantwortlich machen, wenn ein Italiener raucht? Das ist Sache der Steiger, darauf zu achten, daß sich ihre Leute unter Tage so benehmen, wie es Vorschrift ist. Ich lehne es daher ab, überhaupt noch in dieser Sache belästigt zu werden.«
Dr. Vittingsfeld wartete auf eine Antwort. Als sie nicht erfolgte, drehte er sich um.
Das Zimmer war leer. Kurt Holtmann hatte unbemerkt den Raum, wie angekündigt, verlassen. So etwas war dem großen Generaldirektor noch nie passiert. Wie angestochen rannte er zum Telefon und rief sein Vorzimmer an:
»Wann ist Herr Holtmann gegangen?«
»Vor ein oder zwei Minuten, Herr Generaldirektor.«
»Danke.«
Dr. Vittingsfeld setzte sich schwer in seinen Ledersessel. Er fühlte sich zutiefst brüskiert. Er kochte.
»Das ist das Letzte«, zischte er und ballte die Fäuste. »Das sollst du mir büßen, du Laus! Jetzt mache ich dich fertig, du Rotzjunge!«
Und er wußte auch schon das sicherste Mittel, ein gefährliches Subjekt wie Kurt Holtmann für alle Zeiten auszuschalten.
Das Zusammentreffen von Veronika Sassen und Dr. Pillnitz war schicksalhaft.
Jeden Tag bekam Veronika eine Injektion gegen Kreislaufstörungen und gegen ihre Migräne. Der Hausarzt kam meistens um die Mittagszeit in die Sassen-Villa, gab die Spritzen und war zehn Minuten später wieder weg. Da Veronika ihre Zimmer kaum noch verließ und auch keine Besuche empfing, ausgenommen den ihres Mannes, der sehr besorgt war, und den des kleinen Oliver, der die einzige Verbindung zur Außenwelt bildete und alles erzählte, was er so hörte und sah, fiel es nicht auf, daß statt des Hausarztes an diesem Mittag Dr. Pillnitz die Treppe hinaufhumpelte. Das Hausmädchen, das ihn ja kannte, machte ahnungslos die Tür auf und war sogar versucht, ihm beizuspringen, als er sich mühte, die Treppe mit seinen Krücken zu bezwingen.
Veronika saß auf dem Balkon, der zum Park hinaus führte, und las, als sie
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