Die schöne Ärztin
Industriellen kapitulierte. »Doktor!« hatte Dr. Sassen gerufen, »wenn Sie mir das Telefon wegnehmen, können Sie gleich einen Sarg bestellen. Mein Herz hat zwar versagt, aber das Gehirn ist klar. Und solange ich denken kann, bleibe ich der alte Sassen, verstanden? Wenn Sie mich so völlig stillegen wollen, wie Ihnen das vorschwebt, müssen Sie mich schon chloroformieren. Soll ich stundenlang, tagelang an die Decke starren? Soll ich zehnmal den gleichen Krimi lesen? Die Illustrierten kenne ich längst. Himmel nochmal, ich verblöde ja, wenn ich mich Ihrer Therapie nicht entziehe!«
Das war der Moment, in dem der Arzt seine Tasche schloß und sagte: »Sie müssen es wissen, Herr Sassen. Ihr Leben liegt in Ihrer Hand. Gute Nacht!«
Kurz darauf sagte sich Generaldirektor Dr. Vittingsfeld an und bat um Besuchserlaubnis. Er kam mit einem riesigen Blumenstrauß und einer Kiste besten französischen Rotweins, drückte dem Freund ergriffen die Hand und nahm Platz.
»Sie machen ja Sachen, lieber Sassen«, sagte Dr. Vittingsfeld mit seiner hellen Kommandostimme. »Herzanfall, Sohn zum Arbeitnehmerverband, Schwiegersohn – na, Schwamm drüber! Nehmen Sie das Mitgefühl des gesamten Vorstandes entgegen, mein lieber Freund. Die Herren wünschen Ihnen schnellste Besserung.« Eine kleine Kunstpause, dann sagte er weiter: »Schon in Anbetracht der Aufgaben, die auf uns zukommen …«
Dr. Sassen richtete sich etwas auf. »Aufgaben?«
»Ja. Es ist noch geheim, wir sprachen darüber, nachdem Herr Holtmann in so bemerkenswerter Weise den Saal verlassen hatte: Wir werden einige Schachtanlagen schließen. Vielleicht auch Emma II.« Dr. Vittingsfeld sah interessiert auf die herrliche, große Muranovase, in die man seinen Blumenstrauß gesteckt hatte. »Wie gesagt, das sind noch geheimste Pläne, die wir erst an die Öffentlichkeit bringen werden, wenn die Bundesregierung darin fortfährt, eine Energiepolitik zum Nachteil der Kohle zu treiben und das Mineralöl weiterhin zu bevorzugen. Dann lassen wir den Schreckschuß los: Schließung einer Anzahl Zechen wegen Unrentabilität.«
»Aber Emma II hat noch für vier Jahre Kohle genug.«
»Vier Jahre! Was sind vier Jahre, mein Bester!« Dr. Vittingsfeld lachte hell. »Natürlich ist Emma II noch nicht am Ende, sie gehört auch zu den Zechen, die erst in der zweiten Phase geschlossen werden. Das geht aber Bonn nichts an, mein Lieber. Denen in Bonn drohen wir gleich das Schlimmste an, damit sie weich werden, verstehen Sie.«
Dr. Vittingsfeld sorgte sich plötzlich um Dr. Sassen. Dieser hatte sich zurückgelehnt und starrte an die Decke. Sein Gesicht hatte die freudige Röte, von der es beim Besuch Dr. Vittingsfelds überzogen worden war, verloren. Es war nun wieder fahl und abweisend. Sollten die doch recht haben, fragte sich Dr. Sassen in diesem Augenblick. Er meinte damit Kurt Holtmann und seinen Sohn Fritz. Stand er bisher auf der falschen Seite? Ist nur der Profit entscheidend und nicht der Mensch? Was ist wichtiger, die Rendite oder ob fünf-, zehn- und zwanzigtausend Menschen ihren Arbeitsplatz verlieren? Ob Familien auseinandergerissen werden? Ob ein in mühseliger Arbeit geschaffenes Eigentum, ein Haus, ein Garten, eine Wohnung nicht mehr unterhalten werden kann?
»Ist Ihnen nicht gut?« sorgte sich Dr. Vittingsfeld.
»Ich habe eine Frage«, antwortete Dr. Sassen mit einer Stimme, die Widerspruch ankündigte.
»Bitte …«
»Es sollen, wie ich weiß, noch einige tausend Arbeiter mehr in unsere Gruben kommen. Oder ist das nicht mehr vorgesehen?«
»Doch, doch.«
»Aber warum denn, wenn wir schließen wollen?«
»Mein Lieber …« Dr. Vittingsfeld lächelte mokant. »Das bedarf doch keiner Erklärung. Mir scheint, Ihnen setzt Ihre Krankheit mehr zu, als gut ist. Ich muß Ihnen das schon sagen, entschuldigen Sie. Zehntausend Arbeiter, mit deren Entlassung wir drohen können, sind ein größeres Druckmittel als fünftausend. Eine ganz einfache Rechnung – nicht? Deshalb diese Einstellungen, mit denen der Grundstein zu weiteren Subventionen gelegt wird.«
»Die sind wohl der springende Punkt?«
»Wer?«
»Die Subventionen?«
»Sicher.«
»Und wenn sie locker gemacht sein werden, kann man ja die Arbeiter, die neu eingestellt wurden, wieder entlassen – oder?«
Vittingsfeld blickte Sassen sehr mißbilligend an. Dessen Ton gefiel ihm nicht. Solche Töne waren eines Zechendirektors unwürdig. Die paßten eher zu einem Gewerkschaftssekretär.
Vittingsfeld ging ans
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