Die schöne Ärztin
Fenster. Er sah hinaus auf den sommerlichen Park, auf die blühenden Sträucher, auf die sich drehenden Rasensprenger. Ein Bild des Wohlstands.
»Ich finde das komisch«, sagte Vittingsfeld mit dem Rücken zum Bett.
»Was finden Sie komisch?« fragte Sassen.
»Ihre Gesinnung, Ihre Anschauungen, die mir plötzlich ganz neu sind. Sie gefährden damit Ihren ganzen Status.«
Es wurde still zwischen den beiden. Die Temperatur stürzte um einige Grade. Plötzlich schien es kälter geworden zu sein im Zimmer.
Nach einer Weile sagte Dr. Sassen: »Würden Sie sich bitte deutlicher ausdrücken …«
Das kannst du haben, dachte Vittingsfeld. Dafür bin ich bekannt, daß ich Fraktur rede. Also bitte …
»Sassen«, sagte er, und dieses dürre, nackte ›Sassen‹ war schon die richtige Einleitung, die auf das weitere schließen ließ, »Sassen, Sie müssen sich darüber im klaren sein, in welchem Lager Sie stehen. Es darf da nicht plötzlich Zweifel geben – für Sie nicht, und für uns auch nicht. Es fehlt aber schon seit einiger Zeit nicht an Anzeichen, daß solche Zweifel berechtigt sind.«
»Welche Anzeichen?«
»Diese merkwürdige Verbindung Ihrer Familie mit einem Revoluzzer –«
»Sie meinen Herrn Holtmann?«
»Ja, natürlich.«
»Diese merkwürdige Verbindung, wie Sie sagen, geht auf meine Tochter zurück.«
»Ja eben! Sie konnten oder wollten keinen Einfluß auf sie zur Geltung bringen. Es kommt ja auch noch Ihr Sohn Fritz hinzu, den Sie nicht in der Hand haben. Wie sieht denn das in der Öffentlichkeit aus! Es gibt ein bekanntes Sprichwort: ›Wie die Alten sungen, zwitschern auch die Jungen.‹ Verstehen Sie, was ich damit sagen will?«
»Ja, sehr gut.«
»Dann«, fackelte der stahlharte Generaldirektor Vittingsfeld nicht mehr länger, »werde ich Ihnen sagen, was wir von Ihnen erwarten: Bringen Sie die Geschichte mit diesem Proleten ins reine! Und nehmen Sie Ihren Sohn an die Kandare!«
Vittingsfeld drehte sich endlich am Fenster wieder um, blickte ins Zimmer und hatte keine Scheu, auch noch das letzte zu sagen: »Anders gibt's keine Zusammenarbeit mehr zwischen uns.«
Die Kälte im Zimmer hatte nicht getrogen. Dr. Ludwig Sassen wußte nun also, wie er dran war. Zweierlei Gefühle regten sich in ihm: grenzenlose Enttäuschung über die Behandlung, die ihm zuteil wurde; außerdem sein Stolz, der es ihm verbot, sich demütigen zu lassen.
»Wie lautet Ihre Antwort?« fragte Vittingsfeld.
»Sie lautet nein«, entgegnete Sassen fest. »Ich lehne es ab«, fuhr er fort, »vor Ihnen herumzukriechen, um die von Ihnen apostrophierte Zusammenarbeit zu retten. Was ich mit meiner Tochter und meinem Sohn machen werde, ist allein meine Sache, zu der ich mir von Ihnen keine Vorschriften machen lasse.«
»Das ist gleichbedeutend«, antwortete Vittingsfeld, der nicht mit der Wimper gezuckt hatte, »mit Ihrem Gesuch um Beurlaubung wegen Erkrankung – sind Sie sich darüber im klaren?«
»Ja.«
»Und Sie wissen auch, womit solche Beurlaubungen zu enden pflegen?«
»Mit der Versetzung in den Ruhestand, ich weiß.«
Dr. Vittingsfeld nickte. Diese Radikallösung, dachte er, schwebte mir zwar nicht vor, als ich mich zu dem Krankenbesuch hier entschloß – aber es ist am besten so. Auf dem Damm ist der ja nun tatsächlich nicht mehr.
Der Abschied war kurz und schmerzlos zwischen den beiden.
»Der Öffentlichkeit gegenüber wahren wir natürlich die entsprechende Form«, versicherte Vittingsfeld. »Das sind wir Ihnen schuldig.«
»Besten Dank«, erwiderte Sassen ironisch.
Vier Wochen gingen vorüber.
Es geschah nicht viel in dieser Zeit. Cabanazzi fuhr jeden Tag fleißig ein, sonntags spielte eine aus Buschhausenern und Italienern kombinierte Mannschaft und gewann jedes Spiel. Willi Korfeck hatte seine Prügel überlebt, lag aber noch mit einer schweren Gehirnerschütterung im Krankenhaus, Kurt Holtmann arbeitete im Betriebsbüro weiter an seinen dummen Statistiken, und Dr. Fritz Sassen ließ den ersten Schuß als neuer Syndikus des Arbeitnehmerverbandes los: Er legte eine Untersuchung vor, daß auf Emma II ein neuer Wetterschacht gebaut werden müßte, da die Bewetterung der 6. Sohle nicht mehr den Sicherheitsmaßnahmen entspräche, die man im modernen Bergbau fordern müßte.
Der Konzern in Gelsenkirchen legte den Antrag zu den Akten. Ein Wetterschacht kostete einige Millionen, wenn man ihn nach den neuesten Erkenntnissen bauen wollte. Das kam für eine Zeche, die in vier Jahren sowieso geschlossen werden
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