Die schöne Ballerina (German Edition)
ihm hinüber. »Wissen Sie, es soll ein weiblicher Geist sein, der vor einigen Hundert Jahren gelebt hat. Das arme Ding war mit einem ziemlich üblen Ehemann verheiratet, behauptet man. Eines Nachts wollte sie sich zu ihrem Liebsten schleichen, und dabei wurde sie unglücklicherweise von ihrem Gatten erwischt. Hat wohl nicht genug aufgepasst, die Arme. Nun, wie dem auch sei, er hat sie den Felsen hinuntergeworfen. Vom Balkon im zweiten Stock.«
»Damit dürfte er den ehebrecherischen Neigungen seines Weibes ein plötzliches und endgültiges Ende gesetzt haben«, kommentierte Seth trocken.
»Mmm.« Lindsay nickte. »Aber hin und wieder soll sie zurückkommen. Die Leute behaupten, sie sei im Garten gesehen worden.«
»Sie scheinen diese Mordgeschichte ja richtig zu genießen.«
»Nun ja, nach ein paar Hundert Jahren haben selbst Mord und Totschlag etwas Romantisches an sich. Denken Sie nur daran, in wie vielen Balletts davon die Rede ist. Giselle , Romeo und Julia. Das sind nur zwei von vielen.«
»Und Sie haben in beiden die Hauptrolle dargestellt. Vielleicht mögen Sie deshalb auch Geistergeschichten?«
»Ich mag Geistergeschichten, obgleich ich mich ganz schrecklich vor Geistern fürchte. Aber das war schon so, bevor ich etwas mit Julia oder Giselle zu tun hatte. Das Haus hat mich fasziniert, solange ich denken kann. Als Kind habe ich geschworen, ich würde eines Tages selbst darin leben. Ich nahm mir vor, den Garten neu anzulegen und das Innere instand setzen zu lassen. Ich stellte mir vor, wie schön es sein müsste, wenn die vielen blank geputzten Fenster in der Sonne glänzen.« Sie langte über den Tisch und drückte schnell Seths Hand. »Ich bin froh, dass Sie es gekauft haben.«
»Wirklich?« Seine Augen wanderten von ihrem Gesicht über den Hals zu dem bescheidenen Ausschnitt ihres Kleides. »Warum?«
»Weil Sie es zu schätzen wissen. Sie werden es zu neuem Leben erwecken.«
Lindsay war sich seiner Blicke sehr bewusst. Jetzt wanderten sie über ihren Mund zurück und versanken in ihren Augen. Wieder wurde ihr plötzlich warm, und sie spürte, wie ihre Haut zu kribbeln anfing. Entschlossen richtete sie sich in ihrem Stuhl auf und nahm die Schultern zurück.
»Ich weiß, dass Sie schon einiges an dem Haus getan haben. Werden Sie jetzt noch größere Umbauten vornehmen oder sich hauptsächlich aufs Renovieren beschränken?« Solange sie redete, fühlte Lindsay sich sicher, also musste sie für die Gesprächsthemen sorgen.
»Möchten Sie sich gern ansehen, was bisher gemacht worden ist?«
»Oh, gern!« Lindsay antwortete, noch bevor Seth die Frage ganz ausgesprochen hatte. Sie strahlte ihn an.
»Dann hole ich Sie morgen Mittag ab.« Sein Blick fiel auf ihren Teller. »Ich hätte nie für möglich gehalten, dass eine kleine zierliche Person wie Sie so viel essen kann«, bemerkte er schmunzelnd. »Haben Sie immer einen so guten Appetit?«
»Ja«, antwortete Lindsay lachend und nahm sich noch ein Stückchen Toast mit Butter. Jetzt war ihr wieder wohler.
Über ihnen wölbte sich der nächtliche Himmel. Dort, wo man zwischen den Wolken Sterne blitzen sah, schienen sie zum Greifen nahe. Während Seth und Lindsay auf dem Rückweg die Küstenstraße entlangfuhren, packte der Herbstwind den Wagen mit solcher Macht von der Seite, dass Seth alle Hände voll zu tun hatte, sich nicht von der Straße drängen zu lassen.
Im Vertrauen auf seine Geschicklichkeit lehnte Lindsay sich behaglich in ihren Sitz zurück. Sie fühlte sich so zufrieden wie lange nicht mehr. Der Abend war viel schöner gewesen, als sie erwartet hatte, und abgesehen von ihrer kleinen Unstimmigkeit wegen Ruth hatten sie sich beide recht gut verstanden.
Hätte ihr gestern jemand gesagt, Seth könne entspannt, ja sogar fröhlich sein, sie hätte ihm nicht geglaubt. Und das Schönste war, dass sie seit dem Unfall ihrer Eltern nicht mehr so viel und herzlich gelacht hatte. Sie war in den letzten Jahren zu ernst geworden, und es wurde für sie höchste Zeit, sich wieder an die heiteren Seiten des Lebens zu erinnern.
Nachdem Seth und Lindsay ihre Meinungsverschiedenheit zunächst beiseitegeschoben hatten, war der Rest des Abends recht harmonisch und anregend verlaufen. Beide hatten sich erfolgreich bemüht, gefährlicheren Themen aus dem Weg zu gehen, und so fanden sie bald heraus, dass ihre Ansichten und Interessen in vieler Hinsicht übereinstimmten.
Lindsay wusste natürlich, dass sie mit Seth wegen Ruths Zukunft wahrscheinlich noch öfter
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