Die schöne Ballerina (German Edition)
nicht einmal an unseren Schulaufführungen teil.«
Ihre Stimme klang jetzt fest und eindringlich. Es lag ihr so viel daran, Seth zu überzeugen. »Cliffside ist nun einmal nicht das Kulturzentrum der Ostküste. Es ist eine Kleinstadt. Die Menschen, die hier leben, stehen mit beiden Beinen auf der Erde und haben nicht viel übrig für künstlerische Betätigungen. Nun gut, als Hobby lassen sie das Tanzen noch durchgehen, aber als Beruf? Davon kann keine Rede sein. Damit kann man seinen Lebensunterhalt nicht verdienen.«
»Sie sind doch auch hier aufgewachsen.« Seth füllte ihre Gläser nach. Der Wein schimmerte golden im Kerzenlicht. »Und Sie haben den Tanz zu Ihrem Beruf gemacht.«
»Ja, das stimmt.« Lindsay fuhr mit der Fingerspitze um den Rand ihres Glases. Sie zögerte mit der Antwort und überlegte, was sie sagen sollte. »Meine Mutter war Tänzerin. Sie hatte sehr bestimmte Vorstellungen, was mein Training betraf. Ich besuchte eine Schule etwa hundert Kilometer außerhalb von Cliffside. Wir brauchten jeden Tag mehrere Stunden für die Hin- und Rückfahrt mit dem Auto.«
Lindsay machte eine kleine Pause, dann lächelte sie vor sich hin. »Meine Lehrerin war etwas ganz Besonderes, eine wunderbare Frau – halb Französin, halb Russin. Aber sie ist jetzt über siebzig und nimmt keine Schüler mehr an. Sonst hätte ich vorgeschlagen, Ruth zu ihr zu schicken.«
Seth blieb genauso ruhig wie zu Beginn ihrer Unterhaltung. »Ruth möchte bei Ihnen studieren.«
Lindsay musste sich zusammennehmen, um nicht laut aufzustöhnen. Sie nippte an ihrem Wein und zwang sich, geduldig zu bleiben. »Ich war siebzehn, genauso alt wie Ruth heute ist, als ich nach New York ging. Und ich hatte damals bereits acht Jahre Studium an einer bekannten Ballettschule hinter mir. Mit achtzehn erhielt ich mein erstes Engagement. Der Konkurrenzkampf ist mehr als hart, und das Training ist …« Lindsay suchte nach dem passenden Wort. »Es ist unvorstellbar schwer. Aber Ruth braucht es. Und sie verdient den bestmöglichen Unterricht, sonst kann sich ihr Talent nicht richtig entfalten.«
Es dauerte eine Weile, bis Seth antwortete. »Ruth ist nicht viel mehr als ein Kind, das in letzter Zeit ein paar schlimme Schicksalsschläge zu verkraften hatte.« Er machte dem Kellner ein Zeichen, die Speisekarte zu bringen. »In drei oder vier Jahren kann sie immer noch nach New York gehen.«
»In drei oder vier Jahren!« Lindsay legte die Speisekarte vor sich auf den Tisch, ohne auch nur einen Blick darauf zu werfen. Sie sah Seth vorwurfsvoll an. »Dann ist sie schon zwanzig!«
»Ein sehr fortgeschrittenes Alter«, erwiderte er trocken.
»Das ist es tatsächlich für eine Tänzerin«, gab Lindsay zurück. »In unserem Beruf gibt es nur wenige, die länger als bis Mitte dreißig tanzen. Na ja, die Männer schlagen manchmal noch ein paar zusätzliche Jahre heraus, wenn es ihnen gelingt, ins Charakterfach hinüberzuwechseln. Mir sind auch vereinzelte Ausnahmen von Frauen bekannt, die mit vierzig noch auf der Bühne standen – Margot Fonteyn, zum Beispiel. Aber, wie gesagt, das sind Ausnahmen und nicht die Regel.«
»Ist das der Grund dafür, dass Sie nicht in Ihren Beruf zurückkehren? Glauben Sie, Ihre Karriere sei mit fünfundzwanzig zu Ende?«
Lindsay schluckte. Sie hob ihr Glas und setzte es sofort wieder vor sich auf den Tisch. »Wir sprechen über Ruth, nicht über mich.«
»Ich interessiere mich nun mal für Geheimnisse.« Seth nahm ihre Hand und studierte die Handfläche, bevor er Lindsay wieder in die Augen sah. »Und eine schöne Frau mit einem Geheimnis ist für mich einfach unwiderstehlich. Wussten Sie eigentlich schon, dass es Hände gibt, die man einfach küssen muss? Sie haben solche Hände.« Er führte ihre Handfläche an die Lippen.
Lindsay war es, als fließe ein warmer heißer Strom durch ihre Glieder, und sie versuchte gar nicht erst, ihre Gefühle vor Seth zu verbergen. Sie sah ihn an und stellte sich vor, wie es wäre, wenn er seine Lippen fest und warm auf ihren Mund legte. Er hat einen schönen Mund, dachte sie und lächelte versonnen. Dann rief sie sich zur Ordnung. Es gab noch Wichtigeres zu besprechen.
»Um auf Ruth zurückzukommen«, bemühte sie sich, das abgebrochene Gespräch wieder in Gang zu bringen, und versuchte gleichzeitig, Seth ihre Hand zu entziehen. Aber der hielt sie fest.
»Ruths Eltern sind vor kaum einem halben Jahr bei einem Zugunglück umgekommen. In Italien.«
Seine Stimme klang gepresst. Seine
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