Die schöne Ballerina (German Edition)
Augen blickten so kalt und hart wie bei ihrem ersten Zusammentreffen. So hatte er mich angesehen, als ich auf dem Boden lag, dachte sie.
»Ruth hatte ein ungewöhnlich enges Verhältnis zu ihren Eltern, vielleicht, weil sie so viel mit ihnen herumgereist ist. Es war sehr schwer für sie, sich nach deren Tod anderen Menschen anzuschließen. Vielleicht können Sie sich vorstellen, was es für ein sechzehnjähriges Mädchen bedeutet, plötzlich als Waise dazustehen. In einem fremden Land und in einer Stadt, in der sie gerade vierzehn Tage vorher angekommen war.«
Lindsays Herz zog sich vor Mitleid zusammen. Bevor sie etwas sagen konnte, fuhr er fort:
»Sie kannte dort buchstäblich keinen Menschen, und ich war zu diesem Zeitpunkt in Südafrika. Es hat mehrere Tage gedauert, bis man mich endlich erreichte. Ruth war fast eine Woche lang auf sich allein gestellt, bevor ich zu ihr kommen konnte. Als ich in Italien ankam, waren mein Bruder und seine Frau schon beerdigt.«
»Seth! Wie schrecklich! Es tut mir unendlich leid.« In dem instinktiven Bedürfnis zu trösten schlossen sich ihre Finger fest um seine Hand. Der Ausdruck seiner Augen veränderte sich, aber Lindsay war zu betroffen, um es zu bemerken. »Es muss entsetzlich für Ruth gewesen sein – und für Sie auch.«
Er antwortete nicht sofort. »Ja«, sagte er schließlich, »ja, es war entsetzlich. Ich brachte Ruth in die Vereinigten Staaten zurück. Aber New York ist sehr anstrengend, und es ging ihr gar nicht gut.«
»Und dann haben Sie Cliff House gefunden«, murmelte Lindsay.
Er sah erstaunt auf, als sie den Namen des Hauses erwähnte, ging aber nicht näher darauf ein. »Ich wollte ihr einen festen Halt geben – wenigstens für eine Weile. Obgleich ich weiß, dass Ruth von dem Gedanken, in einer Kleinstadt zu leben, nicht gerade begeistert ist. In dieser Beziehung hat sie viel Ähnlichkeit mit ihrem Vater. Aber es wird ihr im Augenblick gut tun, denke ich.«
»Ich glaube, ich kann Ihre Beweggründe verstehen. Und ich respektiere sie. Aber Ruth braucht mehr als diesen Halt.«
»In einem halben Jahr werden wir noch einmal darüber sprechen.«
Das klang so endgültig, dass Lindsay nicht wagte, weiter in ihn zu dringen, aber es gelang ihr nicht ganz, ihre Enttäuschung zu verbergen. »Sie sind sehr autoritär, nicht wahr?«
»Das hat man mir schon öfter gesagt.« Seine gute Laune schien zurückzukehren. »Hungrig?« Er lächelte Lindsay herzlich an.
»Ein bisschen«, gab sie zu und öffnete die Speisekarte. »Der gefüllte Hummer ist hier besonders gut.«
Während Seth seine Bestellung aufgab, sah Lindsay aus dem Fenster. Nachdenklich ließ sie ihren Blick über den Sund schweifen. Sie dachte an Ruth, die allein und verlassen mit dem Verlust ihrer Eltern hatte fertig werden müssen. Mit der Beerdigung. Mit all den schrecklichen Dingen, die der Tod eines Menschen mit sich brachte.
Lindsay konnte sich nur zu gut an ihre eigenen Gefühle bei der Nachricht vom Unfall ihrer Eltern erinnern. Niemals würde sie die Panik, die Angst vergessen, die sie auf dem Weg von New York nach Connecticut empfunden hatte. Als sie endlich im Krankenhaus ankam, war ihr Vater tot, ihre Mutter lag im Koma, und die Ärzte machten ihr nicht viel Hoffnung.
Ich war damals erwachsen, erinnerte sie sich, und hatte schon drei Jahre für mich allein gelebt. Und ich war in meiner Heimatstadt, umringt von Freunden. Mehr als zuvor empfand sie das Bedürfnis, Ruth zu helfen.
Sechs Monate, dachte Lindsay. Wenn ich Ruth allein unterrichte, ist die Zeit wenigstens nicht ganz verschwendet. Und vielleicht – vielleicht kann ich Seth doch noch dazu bringen, sie früher nach New York zu schicken. Er muss einfach einsehen, wie wichtig es für sie ist. Aber ich muss Geduld haben. Wenn ich ungeduldig bin, erreiche ich überhaupt nichts bei einem Mann wie Seth. Ich muss es diplomatisch anfangen.
Er war zu dieser Zeit in Afrika, hatte er erzählt. Was er dort wohl getan haben mochte. Bevor sie über die diversen Möglichkeiten weiter nachdachte, kam ihr die Erleuchtung.
»Bannion«, sagte Lindsay laut vor sich hin. »S. N. Bannion, der Architekt. Jetzt weiß ich, warum mir Ihr Name von vornherein so bekannt vorkam.«
Er schien überrascht zu sein, griff nach einer großen Salzstange, brach sie in zwei Hälften und bot ihr eine davon an. »Ich hatte ja keine Ahnung, dass Sie sich auch gern mit Architektur beschäftigen, Lindsay.«
»Ich müsste in den letzten zehn Jahren schon auf einer
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