Die schöne Ballerina (German Edition)
aneinandergeraten würde, denn in diesem Punkt waren sie zu unterschiedlicher Meinung, aber irgendwie würde sie ihren Willen durchsetzen, davon war sie fest überzeugt. Und heute war sie glücklich. Warum an morgen denken?
»Ich liebe Nächte wie diese.« Sie rekelte sich voller Wohlbehagen. »Nächte, in denen die Sterne so nahe zu sein scheinen, in denen der Wind durch die Bäume rauscht.« Sie drehte den Kopf ein wenig, um Seth anzusehen. »Auf der Ostseite Ihres Hauses wird man heute die Wellen am lautesten hören. Haben Sie sich das Schlafzimmer mit dem Balkon zur Bucht ausgesucht? Das mit dem angrenzenden Umkleidezimmer?«
»Sie scheinen das Haus ja gut zu kennen.«
Lindsay lachte. »Natürlich. Was glauben Sie, wie oft wir als Kinder darin herumgelaufen sind. Wir mussten nur immer sehr vorsichtig sein, dass niemand uns sah, wenn wir hineinschlichen. Uns war schon klar, dass wir etwas Verbotenes taten, aber dadurch wurde das Unternehmen nur noch interessanter.«
In der Ferne tauchten jetzt schon die ersten Lichter von Cliffside auf.
»Haben Sie sich dieses Zimmer ausgesucht?«, wiederholte Lindsay. »Ich war immer ganz begeistert von dem riesigen alten Kamin und der hohen Stuckdecke. Aber der Balkon … Haben Sie schon einmal bei Sturm auf dem Balkon gestanden? Das muss ein gewaltiges Erlebnis sein, wenn die Wellen sich an den Felsen brechen und der Wind um das Haus tobt.«
Auch ohne Seth anzusehen, merkte Lindsay, dass er sich über sie amüsierte. Seine Worte bestätigten ihren Verdacht.
»Sie scheinen gern gefährlich zu leben.«
»Kann sein. Vielleicht, weil ich nie viel Aufregendes erlebt habe. Dramatik und Abenteuer kenne ich nur von der Bühne her. In Cliffside verläuft das Leben ziemlich gleichförmig.«
»Ihre Geisterfrau wäre sicher nicht derselben Ansicht.«
»Sie meinen Ihre Geisterfrau«, korrigierte Lindsay, während Seth den Wagen vor ihrem Haus ausrollen ließ. »Sie haben sie mit dem Haus gekauft. Sie gehört Ihnen.«
Als sie ausstiegen, blies ihnen ein kalter Windstoß entgegen.
»Nun scheint der Herbst endgültig den Sommer vertrieben zu haben.« Lindsay blieb einen Augenblick vor dem Wagen stehen und sah zu den dunklen Fenstern des Hauses hinüber. »Bald werden wir auf dem Platz am Ende der Straße ein Freudenfeuer anzünden. Marshall Woods wird seine Geige mitbringen, Tom Randers sein Akkordeon und Danny Brixton die Flöte, und dann spielen sie bis nach Mitternacht zum Tanz auf. Die ganze Stadt wird auf den Beinen sein, um an dem großen Ereignis teilzunehmen. Ihnen wird das Ganze wahrscheinlich recht harmlos vorkommen, nachdem Sie so viel in der Welt herumgekommen sind.«
Seth öffnete das Garagentor und ließ ihr höflich den Vortritt. »Ich bin in einem winzigen Flecken in Iowa aufgewachsen.«
»Wirklich? Ich dachte, Sie kämen aus der Großstadt. Sie wirken so weltmännisch. Sind Sie später noch oft in Iowa gewesen?«
»Nein.«
»Zu langweilig?«
»Zu viele Erinnerungen.«
»Entschuldigen Sie bitte. Ich hätte nicht so neugierig fragen dürfen.«
Lindsay trat auf die erste Stufe der Treppe, die zum Eingang führte. Da sie hohe Absätze trug, stand sie nun mit Seth fast auf gleicher Höhe und sah direkt in seine Augen. In seiner Iris entdeckte sie kleine bernsteinfarbene Pünktchen.
»Zwölf Pünktchen. Auf jeder Seite sechs«, murmelte sie, ohne es selbst zu merken.
»Wie bitte?«
»Oh, nichts. Ich habe die unangenehme Eigenschaft, manchmal mit mir selbst zu reden. Warum lächeln Sie?«
»Mir fiel gerade ein, dass es lange her ist, seit ich ein Mädchen an die Haustür gebracht habe. Damals brannte auch ein Licht über der Tür. Ich war achtzehn, glaube ich.«
»Wie tröstlich, dass Sie auch einmal achtzehn waren. Haben Sie ihr einen Gutenachtkuss gegeben?«
»Natürlich, und ihre Mutter hat hinter der Gardine gestanden und zugesehen.«
Lindsay sah unwillkürlich noch einmal zu den Wohnzimmerfenstern hinüber. »Meine ist schon lange zu Bett gegangen«, erklärte sie, legte ihm die Hände auf die Schultern, neigte sich nach vorn und berührte leicht seine Lippen.
Es war, als hätte die kurze Berührung ein Erdbeben ausgelöst. Empfindungen überwältigten Lindsay, von deren Existenz sie nichts geahnt hatte. Erschreckt fuhr sie zurück und merkte verwundert, dass der Boden unter ihr zu schwanken schien. Sie suchte Halt und klammerte sich fester an Seths Schultern.
Er hatte ihr Gesicht zwischen beide Hände genommen, und seine Blicke versanken in ihren
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