Die schöne Ballerina (German Edition)
Rauch, der aus den Schornsteinen stieg. Genauso habe ich es mir früher immer vorgestellt, überlegte sie.
Dann bemerkte Lindsay eine Gestalt, die den geschlungenen Pfad herunterkam. Jetzt war sie auf der Treppe, die zum Strand führte. Ohne es zu wollen, lächelte sie.
Warum nur hat er diese Wirkung auf mich? fragte sie sich und schüttelte den Kopf. Warum freue ich mich jedes Mal so schrecklich, wenn ich ihn sehe? Wie selbstsicher er geht. Keine überflüssigen Bewegungen. Ohne die geringste Anstrengung. Ich wünschte, ich könnte mit ihm tanzen. Jetzt. Etwas Langsames, Zärtliches.
Sie seufzte und sagte sich, es sei höchste Zeit, wegzurennen.
Sie rannte. Ihm entgegen.
Seth sah sie kommen. Ihr Mantel hatte sich geöffnet, ihr Haar flatterte hinter ihr wie eine gelbe Woge. Die Kälte hatte ihre Wangen gerötet. Ihr Körper wirkte schwerelos, wie sie, den Sand kaum mit den Füßen berührend, daher lief, und er wurde lebhaft an den Abend erinnert, als er sie ganz für sich allein hatte tanzen sehen. Ohne sich dessen bewusst zu werden, blieb er stehen.
Als sie ihn erreichte, leuchteten ihre Augen, und sie streckte ihm die Hände entgegen.
»Hallo!«, rief sie atemlos, stellte sich auf die Zehenspitzen und hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen. »Bin ich froh, dich zu sehen. Ich habe mich so verlassen gefühlt.« Ihre Finger verschränkten sich ineinander.
»Ich habe dich vom Haus aus gesehen.«
»Wirklich?« Sie dachte: Er sieht jünger aus mit dem windzerzausten Haar. »Wie hast du mich auf die Entfernung erkannt?«
Er brauchte nicht lange über die Antwort nachzudenken. »An deinem Gang.«
»Ein schöneres Kompliment kannst du einer Tänzerin nicht machen. Bist du deshalb heruntergekommen?« Es tat gut, seine Hand zu halten und bei ihm zu sein. »Wolltest du mich treffen?«
»Ja. Warum sonst?«
»Ich bin froh darüber«, sagte sie warm. »Ich brauche jemanden, mit dem ich reden kann. Willst du mir zuhören?«
»Schieß los.«
In schweigender Übereinstimmung gingen sie weiter am Ufer entlang.
»Solange ich zurückdenken kann, war Tanzen mein Leben«, begann Lindsay. »Ich kann mich an keinen Tag ohne Unterricht, an keinen Morgen ohne die Übung an der barre erinnern. Für meine Mutter, die als Tänzerin nicht sehr erfolgreich gewesen war, war es ungeheuer wichtig, dass ich es weiter bringen würde als sie. Sie empfand es als eine besonders glückliche Fügung des Schicksals, dass ich Talent zum Tanzen hatte. Dass ich Tänzerin wurde, war für uns beide auf verschiedene Art wichtig, aber das gemeinsame Ziel verband uns eng miteinander.«
Lindsay sprach leise, aber Seth konnte sie trotz der lauten Brandung gut verstehen.
»Als ich mein erstes Engagement erhielt, war ich kaum älter als Ruth. Es war ein hartes Leben. Der Konkurrenzkampf, das harte Training, der Stress. Schon morgens früh fing es an, wenn man die Augen öffnete – barre , Unterricht, Proben, wieder Unterricht, sieben Tage in der Woche. Wenn man vorankommen will, existiert nichts anderes. Selbst wenn man den Schritt zur Solotänzerin schafft, ändert sich nichts daran, denn immer steht jemand hinter dir und will auf deinen Platz. Versäumst du nur einmal den Unterricht, rächt sich dein Körper dafür. Beim nächsten Training gehorcht er nicht. Die Muskeln schmerzen, die Waden, die Füße. Das ist der Preis, den man zahlen muss, um diese unnatürlichen Bewegungen zu beherrschen.«
Sie atmete die würzige Brise ein und hielt ihr Gesicht dem kalten Wind entgegen. »Aber ich war glücklich. Ich hätte mir kein schöneres Leben vorstellen können. Es ist schwer zu beschreiben, was man fühlt, wenn man vor dem ersten Solo hinter den noch geschlossenen Vorhängen steht und auf den Auftritt wartet. Man muss selbst tanzen, um es nachempfinden zu können. Und dann, auf der Bühne, ist aller Schmerz vergessen. Bis zum nächsten Tag. Dann fängt es wieder von vorne an.«
Lindsay drückte Seths Hand. »Solange ich mein Engagement hatte, ging ich ganz in meiner Arbeit auf. Ich brauchte nichts anderes und dachte kaum noch an Cliffside oder irgendjemanden, der dort wohnte. Wir begannen gerade mit den Proben zum Feuervogel , als meine Eltern verunglückten.«
Lindsay machte eine kleine Pause. Obgleich ihre Stimme leiser wurde, verlor sie nichts von ihrer Klarheit. »Ich liebte meinen Vater. Er war ein unkomplizierter, liebevoller Mann. Und doch hatte ich im letzten Jahr in New York sicher kein Dutzend Mal an ihn gedacht. Hast du schon einmal
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