Die schöne Ballerina (German Edition)
obendrein noch Sorgen um mich zu machen. Ja, das tust du«, fügte sie hinzu, als Lindsay den Mund zu einem Protest öffnete. »Seit ich aus dem Krankenhaus zurückgekommen bin, habe ich gewaltige Fortschritte gemacht.«
»Ich weiß. Du hast ja recht. Aber Kalifornien?« Sie sah ihre Mutter hilflos an. »Es ist so weit weg …«
»Es wird für uns beide das Beste sein. Carol hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass ich versucht habe, Druck auf dich auszuüben. Sie hat vollkommen recht.«
»Mutter …«
»Nein, nein. Das ist schon so, und es würde so bleiben, wenn wir uns weiter so nahe auf der Pelle sitzen.« Mary atmete einmal tief aus und ein und fuhr mit warmer Stimme fort: »Es wird Zeit für uns beide, wieder ein eigenes Leben zu leben. Ich habe mir immer nur eines gewünscht – für dich gewünscht –, und ich werde wohl nie aufhören, es zu wünschen.«
Sie nahm Lindsays Hand und betrachtete die langen, schlanken Finger. »Träume lassen sich nicht so schnell abschalten. Mein ganzes Leben lang habe ich geträumt – zuerst für mich, dann für dich. Vielleicht war es falsch. Weißt du, manchmal habe ich in letzter Zeit gedacht, dass du meine Krankheit als Entschuldigung dafür brauchst, nicht mehr zurückzukehren.«
Sie ließ sich durch Lindsays Kopfschütteln nicht beirren. »Du hast für mich gesorgt, als ich dich brauchte, und ich werde dir ewig dankbar dafür sein – wenn ich es auch nicht immer gezeigt habe. Aber jetzt bin ich nicht mehr auf Pflege und Fürsorge angewiesen. Im Gegenteil, du darfst mir nicht das Gefühl geben, ein Krüppel und zu nichts mehr nütze zu sein. Willst du mir einen letzten, großen Gefallen tun?« Mary sah Lindsay bittend an.
Lindsay wartete schweigend.
»Denk bitte noch einmal darüber nach, wo du jetzt stehst. Überlege dir, ob es nicht doch richtiger wäre, nach New York zurückzukehren.«
Lindsay brachte keinen Ton heraus. Sie nickte nur und umarmte ihre Mutter.
Sie hatte darüber nachgedacht, lange und gründlich. Das war vor zwei Jahren gewesen. Damals hatte sie ihren Entschluss gefasst. Aber sie hatte genickt, weil sie das Band, das sie heute zum ersten Mal seit langer Zeit wieder zwischen sich und ihrer Mutter gespürt hatte, nicht zerstören wollte.
»Wann willst du abreisen?«
»In drei Wochen.«
Lindsays Arme fielen herunter. »Du und Carol, ihr werdet ein fantastisches Gespann sein.« Plötzlich fühlte sie sich verloren, allein und verlassen. »Ich geh ein bisschen spazieren«, sagte sie schnell, bevor Mary ihr die Rührung ansehen konnte. »Ich möchte ein wenig nachdenken.«
Lindsay liebte Spaziergänge am Strand, besonders, wenn der Winter nicht mehr fern war. Ein verschlissener, aber immer noch warmer Lammfellmantel schützte sie vor dem schneidend kalten Wind, und so wanderte sie, die Hände in den Taschen vergraben, an der Küste entlang.
Es roch nicht nur nach Meer, Lindsay glaubte den salzigen Geschmack auf der Zunge zu schmecken. Sie stemmte sich gegen den Wind und fühlte, wie ihre Gedanken sich allmählich klärten.
Niemals hatte sie erwartet, ihre Mutter könnte Cliffside einmal für immer verlassen, und sie war sich immer noch nicht klar darüber, was sie bei dem Gedanken an eine Trennung von Mary empfand.
Eine Möwe strich ganz nah an ihr vorüber. Lindsay blieb stehen und sah zu, wie der Vogel sich auf einem der Felsblöcke niederließ.
Drei Jahre, dachte sie. Drei Jahre lang bin ich Tag für Tag an meine Mutter und meinen Beruf gefesselt gewesen. Ich habe mich daran gewöhnt. Wie werde ich es ertragen, plötzlich aus einem festen Tagesablauf herausgerissen zu werden?
Sie beugte sich herunter und nahm einen glatten flachen Stein aus dem Sand. Er hatte die Größe eines Silberdollars und war sandfarben mit schwarzen Flecken. Sie rieb ihn sauber und steckte ihn in die Manteltasche. Dort hielt sie ihn in der Hand.
Sie rief sich die letzten drei Jahre in Cliffside ins Gedächtnis zurück und die drei Jahre vorher in New York. Zwei verschiedene Welten, dachte sie und zog die Schultern ein wenig hoch. Bestehe ich vielleicht auch aus zwei verschiedenen Personen?
Sie warf den Kopf in den Nacken und erblickte hoch über sich auf der Klippe Cliff House. Es war vielleicht dreihundert Meter von ihr entfernt, aber sein Anblick wärmte ihr das Herz.
Es wird immer da sein, solange ich lebe, dachte sie. Hier ist etwas, auf das ich mich verlassen kann. Sie blickte zu den im Sonnenschein schimmernden Fenstern auf und freute sich über den
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