Die Schöne des Herrn (German Edition)
niedergelassen hatte, das spirituelle Bedürfnis verspürte, sich der sogenannten Oxfordgruppe anzuschließen. Seit ihrem Eintritt in diese religiöse Sekte (in der sie sich besonders wohl fühlte, weil man darin Damen aus gehobenen gesellschaftlichen Schichten sofort duzen und beim Vornamen nennen darf) erhält sie ständig ›Weisungen‹, was im Jargon der Oxfordianer bedeutet, dass man direkte Befehle von Gott erhält. Kaum war die Deume Mitglied dieser Gruppe, erhielt sie die ›Weisung‹, ihre Mitgenossinnen der guten Gesellschaft zum Tee oder zum Mittagessen einzuladen. (Sie zieht es vor, Lunch zu sagen, was ihr vornehmer erscheint und was sie wie Lontsch ausspricht.) Da Cologny, wo sich die Villa Deume befindet, ein vornehmes Viertel ist, hatten die Damen auch Weisung erhalten, die Einladungen anzunehmen. Aber nachdem sie beim ersten Besuch den kleinen Papa Deume kennengelernt hatten, erhielten sie die Weisung, die künftigen Einladungen auszuschlagen. Nur eine gewisse Madame Ventradour hatte noch Weisung, zwei oder drei Einladungen zum Tee anzunehmen. O mein Vater, meine Tante Valérie, mein Onkel Agrippa, meine edlen, so wahren, so aufrichtigen, so reinen Christen! Ja, wirklich, es gibt moralisch nichts Schöneres als die Genfer Protestanten von edler Rasse. Ich bin müde. Genug. Ich werde morgen fortfahren.«
***
Unten klingelte das Telefon. Er öffnete die Tür, trat auf den Treppenabsatz hinaus und lehnte sich über das Geländer. Er horchte. Das musste die Stimme der Alten sein.
»Nein, mein Didi, mach dir keine Sorgen, wenn du dich verspätest, du kannst ja im Palais des Nations zu Mittag essen oder in das Restaurant
La Perle du Lac
gehen, wo du immer so gerne isst, denn unser Zeitplan hat sich sehr geändert. Ich wollte dich gerade anrufen, um dir die große Neuigkeit mitzuteilen. Stell dir vor, mein Schatz, eben gerade hat die liebe Madame Ventradour Papi und mich zum Lontsch bei sich zu Hause eingeladen! Es ist das erste Mal, dass wir zu ihr zum Essen gehen, was unsere Beziehungen nun wohl noch mehr festigen, ich meine, intimer gestalten wird. Wie ich dir bereits sagte, ändert das sehr unsere Pläne, erstens, weil ich jetzt gleich die liebe Ruth Granier anrufen muss, um unseren für heute Nachmittag angesetzten Meditationstee auf morgen zu verschieben, und zweitens, weil ich für heute Mittag gegrillte Rotbarben geplant hatte, und ich weiß nicht einmal, ob sie sich bis morgen Mittag im Kühlschrank halten werden, denn es wäre doch schade, sie am Abend zu essen, besonders nach dem großen Lontsch, der uns erwartet, aber sei’s drum, wir werden sie heute Abend essen, und die Quiche Lorraine von heute Abend essen wir eben morgen Mittag, denn eine Quiche hält sich länger als Rotbarben. Übrigens, was die Einladung betrifft, muss ich dir erzählen, wie sie zustande gekommen ist, aber schnell, ich habe gerade noch Zeit, doch was soll’s, dann nehmen wir eben ein Taxi an der Haltestelle, ich muss es dir erzählen, es wird dich bestimmt freuen. Vorhin also, vor kaum zehn Minuten, hatte ich die Idee oder vielmehr die Weisung, die liebe Madame Ventradour anzurufen, um ihr ein herrlich erbauliches Buch über Helen Keller zu empfehlen, du weißt doch, diese bewunderungswürdige, immer fröhliche taubstumme und blinde Frau, denn du kannst dir ja denken, dass ich den Kontakt mit ihr aufrechterhalten möchte, und so sprachen wir von diesem und jenem, immer sehr gepflegt, und dabei erzählte sie mir von ihren häuslichen Schwierigkeiten, denn du weißt ja, sie hat eine Menge Personal, eine Köchin, ein Küchenmädchen, ein erstklassig geschultes Zimmermädchen, einen Gärtner und einen Chauffeur. Morgen empfängt sie einen Generalkonsul mit seiner Gemahlin, die einige Tage bei ihr verbringen werden, und natürlich will sie, dass alles tipptopp ist. Heute sollten die Fenster geputzt werden, dreißig Fenster, von denen zwanzig nach vorne gehen, aber auf einmal wird die Frau, die normalerweise für die groben Arbeiten kommt, krank, was soll man von solchem Volk auch anderes erwarten, ständig haben sie eine Ausrede, und natürlich immer im letzten Augenblick, ohne einem Zeit zu lassen, sich anderswo umzusehen. Die liebe Madame Ventradour war natürlich völlig aus dem Häuschen und wusste sich nicht zu helfen. Und gutherzig wie ich bin, kam ich auf die Idee, ihr zu sagen, ich würde ihr meine Martha für den ganzen Nachmittag für ihre Fenster leihen, von denen zehn in diesem neuen japanischen Kunststil
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