Die Schöne des Herrn (German Edition)
verzichten. Heute Mittag werde ich ihr sagen, sie könne darüber verfügen. Oh, für mich bedeutet es eine große Entbehrung, eine Prüfung, aber ich glaube, wenn es erst einmal geschehen ist, werde ich mich freuen, das Opfer gebracht zu haben.«
XXIV
Sich schämend, weil er sein Morgengebet noch nicht gesprochen hatte, wusch Onkel Saltiel sich in aller Eile die Hände, sang dreimal »Gelobt sei der Herr«, bedeckte sein Haupt mit dem rituellen Schal und stimmte die Verse des 36. Psalms an. Er wollte gerade die Gebetriemen anlegen, als die Tür heftig aufgestoßen wurde und Eisenbeißer auf seinen Steigeisen ins Zimmer schlitterte.
»Gevatter und Vetter«, sagte er, »hier stehe ich vor dir, in deiner geliebten Gegenwart, um dir im Vertrauen einige vernünftige Worte zu sagen, die nur für dich bestimmt sind. Ich beginne also. Getreuer Freund und Schicksalsgefährte, wie lange soll diese Qual noch dauern?«
»Welche Qual?«, fragte Saltiel ruhig und faltete seinen Gebetsschal zusammen.
»Leih dein Ohr meiner Zunge, und du wirst es erfahren! Wir sind also auf dem Himmelsweg von London gekommen, wir sind in der zarten Morgenröte des einunddreißigsten Tags des Mai in diesem Genf eingetroffen, und heute ist Dienstag, der fünfte Juni. Ist das richtig? Keine Einwände? Angenommen! Wir sind also seit fünf Tagen in Genf, und ich habe bis jetzt deinen Herrn Neffen noch nicht zu Gesicht bekommen! Du in deiner maßlosen Selbstsucht hast ihn jeden Tag gesehen, ohne mich in das Geheimnis eurer Unterhaltungen einzuweihen, und wahrscheinlich verschafft dir dieses billige Gefühl der Überlegenheit sogar ein gewisses Vergnügen. Du hast dich darauf beschränkt, mich letzte Nacht geheimnistuerisch aus meinem unschuldigen Schlaf zu wecken, um mir auf satanische Weise mitzuteilen, dass du soeben köstliche Stunden in Gesellschaft des besagten Herrn verbracht habest, und mir dann mit ein paar Worten, deren Kürze meine Seele verletzte, kundzutun, er würde uns heute früh um zehn Uhr in dieser Herberge besuchen. Ohne jeden Groll, über die erlittene Kränkung den Mantel der Vergebung breitend, erwürgte ich in meiner Seele den Löwen der Empörung und die Hyäne des Neides und begnügte mich damit, reinen Herzens zu lächeln und mich ganz der uneigennützigen Freude hinzugeben, endlich deinen Neffen zu sehen, der durch die Bande des Blutes schließlich auch mir verbunden ist! So habe ich ihn also in großer Ungeduld des Herzens seit Sonnenaufgang erwartet …«
»Warum seit Sonnenaufgang, da er doch zehn Uhr gesagt hat?«
»Aus der Leidenschaft meines Temperaments heraus! Und jetzt ist es bereits halb elf, und nicht der kleinste Fingernagel deines Neffen! So ziehen die Tage schwermütig und unproduktiv vorüber! So kann es nicht weitergehen, ich verzehre mich hier in steriler Langeweile! Was habe ich, seit ich in diesem Genf bin, an Großartigem, an Erregendem und für die künftigen Generationen Beispielgebendem getan? Nichts, mein Freund, nichts, außer der hübsch mit der Hand geschriebenen Visitenkarte, die ich bei dem Flegel von Rektor der Genfer Universität abgab, einem ungezogenen Menschen, der mir nicht einmal dafür gedankt hat! Kurz, mein Leben zieht sich in dieser Stadt des ewigen Wartens und der albernen Möwen mit ihrem zänkischen Geschrei entsetzlich in die Länge. Seit fünf Tagen, mein Freund, führe ich ein Leben ohne Bedeutung, ohne Poesie, ohne Ideal! Ich gehe teilnahmslos und niedergedrückt spazieren, sehe mir Schaufenster an, esse und schlafe! Um es rundheraus zu sagen, es ist ein rein animalisches Leben, ohne Einfälle, ohne Abenteuer, ohne Ereignisse, ohne unverhoffte Gewinne, ohne eine einzige ruhmreiche Tat! Und das Ergebnis, wenn der Abend kommt, gehe ich, da ich nichts zu tun oder zu gewinnen habe, bleich, mit erloschenem Blick und schmerzerfüllt früh in der Dämmerung zu Bett, während die Nacht mit ihren Witwenschleiern vorrückt! Ist das ein Leben, frage ich dich? Kurz und gut, dein Neffe vernachlässigt uns, und das macht mich nervös bis in die Zehen. Er hat versprochen und sein Wort nicht gehalten, und ich urteile streng über ihn! Er lässt es an Familiensinn fehlen, das ist meine Meinung! Jetzt ist es an dir zu antworten!«
»Vermessener, wer bist du, ihn zu richten? Wo sind deine Diplome, wo deine hohen Funktionen?«
»Ehemaliger Rektor!«
»Und Hühneraugenschneider! Begreifst du denn nicht, dass er heute Morgen mit Sicherheit in letzter Minute noch irgendeine Angelegenheit von
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