Die schöne Diva von Saint-Jacques
Hotel. Aber Sie gehen nicht zu Ihrem Onkel.«
Wie ein Fels versperrte Mathias die ganze Tür. Über Alexandras Schulter warf er Marc und Lucien einen Blick zu – mehr, um seinen Willen deutlich zu machen, als um Zustimmung zu suchen.
Dickköpfig stand Alexandra Mathias gegenüber.
»Es tut mir sehr leid«, sagte Mathias. »Aber Sophia ist verschwunden. Ich lasse Sie nicht dahin.«
»Warum?« fragte Alexandra. »Was verheimlichen Sie mir? Ist Tante Sophia dort? Wollen Sie nicht, daß ich sie sehe? Haben Sie mich belogen?«
Mathias schüttelte den Kopf.
»Nein. Es ist die Wahrheit«, sagte er langsam. »Sie ist verschwunden. Es ist möglich, daß sie bei diesem Stelyos ist. Ebenso kann man, so wie Sie, glauben, daß ihr etwas zugestoßen ist. Ich denke, daß Sophia ermordet worden ist. Und bis wir wissen, von wem, lasse ich Sie nicht zu ihm. Weder Sie noch den Kleinen.«
Mathias stand vor der Tür wie festgewachsen. Sein Blick ließ die junge Frau nicht los.
»Hier ist es für ihn besser als im Hotel, glaube ich«, sagte Mathias. »Geben Sie ihn mir.«
Mathias streckte seine langen Arme aus, und Alexandra gab ihm, ohne etwas zu sagen, das Kind. Marc und Lucien waren stumm damit beschäftigt, den ruhigen Staatsstreich von Mathias zu verarbeiten. Mathias gab die Tür frei, legte den Jungen wieder auf das Bett und deckte ihn zum zweiten Mal zu.
»Er hat einen tiefen Schlaf«, sagte Mathias lächelnd. »Wie heißt er?«
»Cyrille«, antwortete Alexandra.
Ihre Stimme klang spröde. Sophia ermordet. Aber was wußte dieser große Typ darüber? Und warum ließ sie ihn machen?
»Sind Sie sicher, was Sie da sagen? Über Tante Sophia?«
»Nein«, erwiderte Mathias. »Aber ich bin lieber vorsichtig.«
Lucien stieß plötzlich einen tiefen Seufzer aus.
»Ich glaube, es ist besser, sich auf die jahrtausendealte Weisheit von Mathias zu verlassen«, sagte er. »Sein wacher Instinkt geht bis auf die letzte Eiszeit zurück. Er kennt sich mit den Gefahren der Steppe und allen möglichen wilden Tieren aus. Ja, ich glaube, es ist besser, wenn Sie sich dem Schutz dieses primitiven Blonden mit seinem schlichten, aber im großen und ganzen doch nützlichen Instinkt anvertrauen.«
»Stimmt«, sagte Marc, der noch immer unter dem Schock stand, den Mathias’ Verdacht in ihm ausgelöst hatte. »Wollen Sie hier wohnen, bis die Dinge sich klären? Hier im Erdgeschoß gibt es einen kleinen Nebenraum, in dem wir Ihnen ein Schlafzimmer einrichten können. Es wird nicht sehr warm sein und auch etwas... klösterlich, wie Sie sagen. Das ist komisch, Ihre Tante Sophia nennt den großen Raum hier das Refektorium der Mönche‹. Wir werden Sie nicht stören, wir haben jeder unsere eigene Etage. Wir treffen uns hier unten nur zum Reden, Schreien, Essen oder Feuermachen, um die wilden Tiere fernzuhalten. Sie können Ihrem Onkel sagen, daß Sie ihn angesichts der Umstände nicht stören wollen. Was auch geschehen mag, hier ist immer jemand. Wie entscheiden Sie sich?«
Alexandra hatte an diesem Abend genug erfahren, um sich erschöpft zu fühlen. Sie musterte erneut die Gesichter der drei Männer, überlegte einen Moment, betrachtete den schlafenden Cyrille und bekam eine leichte Gänsehaut.
»Einverstanden«, sagte sie. »Ich danke Ihnen.«
»Lucien, hol das Gepäck herein«, sagte Marc. »Und du, Mathias, hilf mir, das Bett von dem Kleinen in den Nebenraum zu tragen.«
Sie transportierten die Liege in den anderen Raum und stiegen in den zweiten Stock hinauf, um ein weiteres Bett zu holen, das Marc noch aus besseren Tagen besaß, außerdem noch eine Lampe und einen Teppich, die Lucien zur Verfügung stellte.
»Das bekommt sie, weil sie traurig ist«, sagte Lucien, während er seinen Teppich zusammenrollte.
Nachdem das Zimmer in etwa eingerichtet war, nahm Marc den Schlüssel und steckte ihn von der Innenseite ins Schloß, damit Alexandra Haufman sich einschließen konnte, wenn sie wollte. Er machte es sehr gewandt und kommentarlos. Immer wieder die diskrete Eleganz des verarmten Adligen, dachte Lucien. Man sollte daran denken, ihm einen Siegelring zu kaufen, damit er künftig seine Briefe mit rotem Siegellack verschließen könnte. Das würde ihm sicherlich sehr gefallen.
17
Fünfzehn Minuten nach dem morgendlichen Anruf von Vandoosler erschien Inspektor Leguennec. Nach kurzem Getuschel mit seinem ehemaligen Chef bat er um ein kurzes Gespräch mit der jungen Frau. Marc verließ den großen Raum und konnte seinen Paten nur
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