Die schöne Diva von Saint-Jacques
nach dem Brotbrett und schnitt zwei dicke Scheiben ab. Eine davon gab er Lucien.
»Aber ich habe keinen Hunger«, jammerte Lucien.
»Iß das Brot.«
Mathias und Lucien hatten begonnen, ihre dicke Scheibe zu mummeln, als Marc eintrat und sanft eine müde, schweigende junge Frau vor sich her schob, die ein recht großes Kind an sich drückte. Marc fragte sich flüchtig, warum Mathias und Lucien Brot aßen.
»Nehmen Sie bitte Platz«, sagte er etwas förmlich, um die junge Frau zu beruhigen.
Er nahm ihr ihre nassen Sachen ab.
Mathias verließ den Raum, ohne etwas zu sagen, und kam mit einer Daunendecke und einem sauber bezogenen Kopfkissen wieder. Mit einer Handbewegung forderte er die junge Frau auf, das Kind auf das kleine Bett in der Ecke neben dem Kamin zu legen. Mit sanften Bewegungen deckte er das Kind zu und ging daran, Feuer zu machen. Ganz der Jäger und Sammler mit dem weiten Herzen, dachte Lucien und zog eine Grimasse. Aber Mathias’ stumme Gesten hatten ihn gerührt. Er selbst hätte nicht daran gedacht. Lucien hatte leicht einen Kloß im Hals.
Die junge Frau hatte fast keine Angst mehr und fror schon sehr viel weniger. Das mußte am Kaminfeuer liegen. So etwas hat immer positive Auswirkungen, sowohl auf die Angst als auch auf das Frieren, und Mathias hatte ein mächtiges Feuer gemacht. Danach aber wußte er nicht, was er sagen sollte. Er preßte seine Handflächen aneinander, wie um das Schweigen zu zermalmen.
»Ein Junge oder ein Mädchen?« fragte Marc, um höflich zu sein. »Ich meine, das Kind?«
»Es ist ein Junge«, sagte die junge Frau. »Er ist fünf Jahre alt.«
Marc und Lucien nickten würdevoll mit dem Kopf.
Die junge Frau löste den Schal, den sie um ihren Kopf geschlungen hatte, schüttelte ihr Haar, legte den nassen Schal über die Rückenlehne ihres Stuhls und hob die Augen, um zu sehen, wohin es sie verschlagen hatte. Im Grunde musterten sich alle. Aber die drei Evangelisten brauchten nicht viel Zeit, um zu bemerken, daß das Gesicht ihres Flüchtlings zart genug war, um einen Heiligen in Versuchung zu führen. Auch wenn sie keine Schönheit auf den ersten Blick war. Sie mußte etwa dreißig Jahre alt sein. Klares Gesicht, kindliche Lippen, ausgeprägte Wangenknochen, dichtes schwarzes Haar, das im Nacken kurz gehalten war – all das machte Marc Lust, dieses Gesicht zu umfassen. Marc mochte gestreckte, zarte Körper. Aber er konnte nicht erkennen, ob der Blick abenteuerlustig und herausfordernd war oder ob er sich zittrig, verdunkelt und schüchtern versteckte.
Die junge Frau war weiterhin angespannt und warf ihrem schlafenden Jungen häufige, kurze Blicke zu. Sie lächelte ein bißchen. Sie wußte nicht, wo anfangen und ob überhaupt anfangen. Die Namen? Wenn man vielleicht mit den Namen anfinge? Marc stellte alle vor. Er fügte hinzu, daß sein Onkel, ein ehemaliger Polizeibeamter, im vierten Stock schliefe. Das war zwar ein etwas umständliches Detail, aber es war nützlich. Die junge Frau schien etwas beruhigter. Sie stand sogar auf und wärmte sich am Feuer. Sie trug eine Leinenhose, die an den Oberschenkeln und über der schmalen Hüfte recht eng saß, und ein sehr weites Hemd. Ganz anders als die feminine Art von Juliette in ihren schulterfreien Kleidern. Aber da war dieses schöne kleine, klare Gesicht über dem Hemd.
»Fühlen Sie sich nicht verpflichtet, Ihren Namen zu sagen«, sagte Marc. »Es ist nur, weil es geregnet hat. Also da... mit dem Kleinen, da haben wir gedacht... Na ja... wir haben gedacht.«
»Danke«, sagte die junge Frau. »Es ist nett, daß Sie gedacht haben, ich wußte nicht mehr, was ich machen sollte. Aber ich kann meinen Namen sagen, Alexandra Haufman.«
»Deutsche?« fragte Lucien abrupt.
»Halb«, erwiderte sie etwas überrascht. »Mein Vater ist Deutscher, aber meine Mutter ist Griechin. Viele nennen mich Lex.«
Lucien pfiff leise durch die Zähne.
»Griechin?« fragte Marc. »Ihre Mutter ist Griechin?«
»Ja«, antwortete Alexandra. »Aber... was ist damit? Ist das so interessant? In unserer Familie sind viele ins Ausland gegangen. Ich bin in Frankreich geboren. Wir leben in Lyon.«
Sie hatten in der Baracke kein Stockwerk für die Antike vorgesehen, weder für die griechische noch für die römische. Aber natürlich dachten alle gleich wieder an Sophia Simeonidis. Eine junge Frau, halb Griechin, die stundenlang vor Sophias Haus saß. Mit sehr schwarzen Haaren und sehr dunklen Augen, genau wie sie. Mit einer klangvollen und tiefen
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