Die schöne Diva von Saint-Jacques
Stimme, genau wie sie. Mit zerbrechlichen Handgelenken und langen, zierlichen Händen, genau wie sie. Bis auf den Unterschied, daß Alexandra kurze, abgekaute Fingernägel hatte.
»Haben Sie auf Sophia Simeonidis gewartet?« fragte Marc.
»Woher wissen Sie das?« fragte Alexandra. »Kennen Sie sie?«
»Wir sind Nachbarn«, bemerkte Mathias.
»Ach, natürlich, bin ich blöd«, sagte sie. »Aber in ihren Briefen an meine Mutter hat Tante Sophia nie von Ihnen gesprochen. Aber sie schreibt auch nicht oft.«
»Wir sind neu hier«, erklärte Marc.
Die junge Frau schien zu verstehen. Sie blickte sich um.
»Ach so, dann sind Sie diejenigen, die das verlassene Haus übernommen haben? Die Bruchbude?«
»Genau«, sagte Marc.
»Es sieht aber gar nicht so runtergekommen hier aus. Vielleicht ein bißchen kahl... fast klösterlich.«
»Wir haben viel dran gemacht«, erklärte Marc. »Aber das tut jetzt nichts zur Sache. Sind Sie wirklich die Nichte von Sophia?«
»Wirklich«, sagte Alexandra. »Sie ist die Schwester meiner Mutter. Das scheint Sie nicht gerade zu freuen. Mögen Sie Tante Sophia nicht?«
»Doch, sehr sogar«, erwiderte Marc.
»Um so besser. Ich habe sie angerufen, als ich mich entschlossen hatte, nach Paris zu kommen, und sie hat mir angeboten, mich und den Kleinen bei sich aufzunehmen, bis ich eine neue Arbeit finde.«
»Hatten Sie in Lyon keine mehr?«
»Doch, aber ich habe sie aufgegeben.«
»Hat sie Ihnen nicht gefallen?«
»Doch, es war eine schöne Arbeit.«
»Haben Sie Lyon nicht gemocht?«
»Doch.«
»Also«, mischte Lucien sich ein, »warum ziehen Sie dann hierher?«
Die junge Frau blieb einen Augenblick stumm, preßte die Lippen zusammen und versuchte offensichtlich, etwas zu unterdrücken. Sie verschränkte die Arme und preßte sie ebenfalls zusammen.
»Ich glaube, es war dort ein bißchen traurig«, sagte sie.
Mathias begann sofort, weitere Brotscheiben abzuschneiden. Im Grunde war das Brot gar nicht schlecht. Er bot Alexandra eine Scheibe mit Marmelade an. Sie lächelte, akzeptierte und streckte die Hand aus. Dazu mußte sie wieder den Kopf heben. Unbestreitbar standen ihr Tränen in den Augen. Sie spannte ihr Gesicht an und schaffte es, die Tränen in den Augen zu behalten und zu verhindern, daß sie ihr über die Wangen rannen. Aber plötzlich zitterte ihr Mund. Eins von beiden ist es immer.
»Ich versteh das nicht«, nahm Alexandra das Gespräch wieder auf, während sie ihr Brot aß. »Tante Sophia hatte seit zwei Monaten alles organisiert. Sie hatte den Kleinen in der Schule hier im Viertel angemeldet. Alles war vorbereitet. Sie hat mich heute erwartet und sollte mich am Bahnhof abholen, um mir mit dem Kleinen und dem Gepäck zu helfen. Ich habe lange auf sie gewartet, dann habe ich gedacht, daß sie mich nach zehn Jahren vielleicht nicht wiedererkannt hat und wir uns auf dem Bahnsteig verpaßt haben. Daraufhin bin ich hierhergekommen. Aber niemand ist da. Ich versteh das nicht. Ich habe weiter gewartet. Vielleicht sind sie im Kino. Aber das kommt mir komisch vor. Sophia hätte mich nicht vergessen.«
Alexandra wischte sich rasch über die Augen und sah Mathias an. Mathias machte ihr ein zweites Brot zurecht. Sie hatte nicht zu Abend gegessen.
»Wo ist Ihr Gepäck?« fragte Marc.
»Ich habe es an dem Mäuerchen gelassen. Aber holen Sie es nicht! Ich nehme ein Taxi, suche ein Hotel und rufe Tante Sophia morgen an. Es muß ein Mißverständnis gegeben haben.«
»Ich glaube nicht, daß das die beste Lösung ist«, meinte Marc.
Er sah die beiden anderen an. Mathias senkte den Kopf und betrachtete das Brotbrett. Lucien verdrückte sich und ging im Raum umher.
»Hören Sie«, sagte Marc. »Sophia ist seit zwölf Tagen verschwunden. Wir haben sie seit Donnerstag, dem 20. Mai, nicht mehr gesehen.«
Die junge Frau richtete sich auf ihrem Stuhl auf und starrte die drei Männer an.
»Verschwunden?« murmelte sie. »Was ist das denn für eine Geschichte?«
Die leicht hängenden, schüchternen und abenteuerlustigen Augen füllten sich wieder mit Tränen. Sie hatte gesagt, sie sei ein bißchen traurig. Vielleicht. Aber Marc hätte gewettet, daß sehr viel mehr dahintersteckte. Sie hatte sicher mit ihrer Tante gerechnet, um aus Lyon zu fliehen, um vom Ort einer Katastrophe zu fliehen. Er kannte diese Reaktion. Und am Ende der Reise war Sophia nun plötzlich nicht da.
Marc setzte sich neben sie. Er suchte nach den richtigen Worten, um von Sophias Verschwinden zu erzählen, von der
Weitere Kostenlose Bücher