Die schöne Diva von Saint-Jacques
Verabredung mit dem Stern in Lyon, dem vermuteten Verschwinden mit Stelyos. Lucien stellte sich hinter ihn und nahm seine Krawatte wieder an sich, ohne daß Marc es zu bemerken schien. Alexandra hörte Marc stumm zu. Lucien band sich die Krawatte um und versuchte die Dinge etwas zu mildern, indem er sagte, Pierre Relivaux sei nicht gerade ein klasse Typ. Mathias setzte seinen massigen Körper in Bewegung, legte Holz im Kamin nach, durchquerte das Zimmer und legte die Decke wieder richtig über das Kind. Es war ein schönes Kind, mit dunklem Haar wie seine Mutter, nur daß es gelockt war. Und mit ganz dunklen Augenbrauen. Aber Kinder sind immer hübsch, wenn sie schlafen. Man müßte den nächsten Morgen abwarten, um es genauer zu wissen. Natürlich nur, wenn die Mutter bleiben würde.
Alexandra schüttelte mit feindselig zusammengepreßten Lippen den Kopf.
»Nein«, sagte sie. »Nein. So etwas hätte Tante Sophia nicht gemacht. Sie hätte mir Bescheid gesagt.«
Na bitte, dachte Lucien, genau wie Juliette. Warum sind sich die Leute so sicher, daß sie unvergeßlich sind?
»Es ist irgend etwas anderes. Es muß ihr etwas zugestoßen sein«, sagte Alexandra mit leiser Stimme.
»Nein«, sagte Lucien und verteilte Gläser. »Wir haben uns bemüht. Wir haben sogar unter dem Baum gesucht.«
»Idiot«, zischte Marc undeutlich.
»Unter dem Baum?« fragte Alexandra. »Unter dem Baum gesucht?«
»Das hat keine Bedeutung«, erwiderte Marc. »Er redet dummes Zeug.«
»Ich glaube nicht, daß er dummes Zeug redet«, sagte Alexandra. »Was ist los? Es geht um meine Tante, ich muß das wissen!«
Marc schluckte seine Verärgerung über Lucien hinunter und erzählte in abgehackten Sätzen die Geschichte mit dem Baum.
»Und Sie haben alle daraus geschlossen, daß sich Tante Sophia irgendwo mit Stelyos vergnügt?« fragte Alexandra.
»Ja. Das heißt, fast alle«, erklärte Marc. »Ich glaube, der Pate – das ist mein Onkel – ist mit dieser Erklärung nicht ganz einverstanden. Und mich stört der Baum immer noch. Aber Sophia hat sich irgendwohin verdrückt. Das ist sicher.«
»Und ich sage Ihnen, das ist unmöglich«, entgegnete Alexandra und schlug auf den Tisch. »Selbst von Delos aus hätte Tante Sophia mich angerufen, um mir Bescheid zu geben. Ich habe mich immer auf sie verlassen können. Außerdem liebte sie Pierre. Es ist ihr etwas zugestoßen! Ganz sicher! Wenn Sie mir nicht glauben, dann glaubt mir die Polizei! Ich muß zur Polizei!«
»Morgen«, erwiderte Marc bewegt. »Vandoosler läßt Inspektor Leguennec kommen, und Sie machen Ihre Aussage, wenn Sie wollen. Er wird sogar die Ermittlung wiederaufnehmen, wenn der Pate ihn darum bittet. Ich glaube, der Pate hat ziemlich viel Einfluß auf diesen Leguennec, wenn er will. Sie sind alte Kumpels seit ihren Walfangboot-Kartenspielen in der Irischen See. Aber Sie müssen wissen, daß Pierre Relivaux nicht gerade sehr nett zu Sophia war. Er hat sie nicht mal als vermißt gemeldet und hat das auch nicht vor. Es ist sein Recht, seiner Frau Bewegungsfreiheit zu lassen. Die Bullen können nichts tun.«
»Kann man die nicht jetzt anrufen? Ich würde sie als vermißt melden.«
»Sie sind nicht Sophias Ehemann. Und jetzt ist es fast zwei Uhr«, erklärte Marc. »Wir müssen warten.«
Sie hörten, wie Mathias, der verschwunden war, mit langsamen Schritten die Treppe herabkam.
»Entschuldige, Lucien«, sagte er, als er die Tür öffnete, »ich habe das Fenster in deinem Stock benutzt. Meines liegt nicht hoch genug.«
»Wer tief stehende Epochen wählt, darf sich hinterher nicht beklagen, daß er nichts sieht«, entgegnete Lucien.
»Relivaux ist nach Hause gekommen«, fuhr Mathias fort, ohne Lucien zu beachten. »Er hat Licht gemacht, ist in die Küche gegangen und hat sich gerade hingelegt.«
»Ich geh zu ihm«, sagte Alexandra und stand abrupt auf. Vorsichtig hob sie den Jungen hoch, lehnte seinen Kopf gegen ihre Schulter, schwarzes Haar an schwarzem Haar, und packte mit einer Hand ihren Schal und ihren Blouson.
Mathias versperrte ihr die Tür.
»Nein«, sagte er.
Alexandra hatte nicht wirklich Angst. Aber es sah so aus. Sie verstand nichts.
»Ich danke Ihnen allen dreien«, sagte sie mit fester Stimme. »Sie haben mir einen großen Dienst erwiesen, aber da mein Onkel jetzt nach Hause gekommen ist, gehe ich zu ihm.«
»Nein«, wiederholte Mathias. »Ich versuche nicht, Sie hier zurückzuhalten. Wenn Sie lieber woanders schlafen, dann begleite ich Sie bis zu einem
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