Die schoene Frau Seidenman
Abtritten und auf Müllhalden verstecken, er wird ins Ghetto zurückkehren, um mit erhobenem Kopf seine Bestimmung auf sich zu nehmen. Ich bin kein Kind, dachte er, ich bin kein Junge. Ich werde nicht länger fliehen. Jetzt trete ich dem entgegen, was in den heiligen Büchern geschrieben steht. Er legte seine Hand auf die nackte Brust der Frau und spürte ihren Herzschlag. Daraus schöpfte er zusätzliche Kraft und stärkte sich in seinem Entschluß.
»Du hast eine kalte Hand«, sagte die Frau. »Das kitzelt mich.«
Sie lachte auf. Henryk lachte auch und nahm seine Hand fort. Jetzt war er stark und ruhig.
Nicht weit hinter der Mauer pfiff eine Lokomotive, dann hörte man das Dröhnen eines Zuges. Vielleicht fuhren in diesem Zuge Polen in den Tod, vielleicht Juden, Deutsche oder Russen.
5
H err Pawełek«, sagte Kujawski, »Sie haben wohl zuviel Bargeld?«
Sie standen an der Ecke Podwale und Kapitulna-Straße. Die Gaslaterne verbreitete einen kümmerlichen, violetten Schein. Ein leichter Wind hob den Rock der Prostituierten, die über die Fahrbahn ging. Sie war sehr korpulent, hatte ein breites Gesicht und hübsche braune Augen. Pawełek kannte sie noch aus der Vorkriegszeit. Vor Jahren hatte sie als erste in seinem Leben eines Abends zu ihm gesagt: »Auf wen warten Sie, junger Mann? Auf ein Mädchen?«
Er war damals verwirrt gewesen, weil er nichts verstand, hatte aber höflich geantwortet: »Ich gehe zu einem Freund.«
»Der Freund läuft nicht weg«, hatte die dicke Frau gesagt. Sie hielt einen Schlüsselbund in der Hand. Wenn sie die Hand bewegte, klingelten die Schlüssel laut. Vom anderen Bürgersteig rief ein Mann herüber: »Fela, verdreh dem Jungen nicht den Kopf. Der braucht ein hübscheres Mädchen…«
Da begriff Pawełek, daß eine Dirne ihn angesprochen hatte. Von seinen Freunden hatte er Geschichten über Dirnen gehört. Er fürchtete sich vor ihnen, empfand Scham und floh vor der dicken Frau. Später aber zog er, sobald er sie traf, höflich seine Gymnasiastenmütze. Die Prostituierte nickte ihm mit heiterem, verständnisvollem Lächeln zu. Sie sprach Pawełek nie wieder an. Nach der Niederlage im September 1939 verschwand sie für eine Weile, tauchte aber später wieder auf, noch stattlicher und gewichtiger, in üppigem, knöchellangem Rock, in der Hand der Schlüsselbund, mit dem sie genauso klangvoll klingelte wie im Polen von einst. Gewöhnlich ging sie auf dem Podwale und der Piekarska-Straße hin und her. Das war ihr Bereich, ihr Platz auf Erden, hier war nur sie die Königin der Liebe.
Als Pawełek die Frau über die Fahrbahn kommen sah, sagte er zuvorkommend: »Guten Abend!«
»Wieso gut«, entgegnete sie und schob die Lippen vor. »Ich spüre meine Beine nicht mehr…«
Schwerfällig ging sie um die Ecke. Sie wird alt, dachte er.
»Sie kennen Fela, Herr Pawełek?« fragte Kujawski. »Das hätte ich von Ihnen nie erwartet.«
»Da gab's auch keinen Grund«, antwortete er. »Ich kenne hier alle. So viele Jahre schon treibe ich mich hier herum.«
»Geben Sie nicht an«, sagte der Schneider Kujawski. »Sie waren ein Knirps, als ich die Uniformen Ihres Herrn Vaters bügelte. Ich kenne diese Gegend besser. Fela ist eine ordentliche Frau. Also, wie steht's mit dem Bargeld? Sind Sie schon reich geworden, Herr Pawełek?«
»Herr Apolinary, mit mir muß man direkt reden, ohne Umschweife. Was also suchen Sie jetzt?«
»Immer dasselbe. Sie wissen das sehr gut, Herr Pawełek. Aber einen ganzen Monat lang sich beim alten Kujawski nicht sehen zu lassen, nicht wenigstens für einen Augenblick hereinzuschauen – das verstehe ich nicht. Wollen Sie wirklich nicht mehr verdienen?«
»Ich war beschäftigt«, entgegnete er. »Und hab' viel um die Ohren.«
»Das wird noch mehr werden.«
Ein deutscher Soldat in Fliegeruniform kam vorüber, ein Blonder mit runden Backen, Stupsnase und veilchenblauen Augen. Seine genagelten Stiefel rappelten auf den Bürgersteigplatten. Er setzte die Füße fest auf und knallte die Absätze gegen das Pflaster, weil er sich in der Dämmerung unsicher fühlte. Das Bajonett an seinem Koppel klatschte rhythmisch an seinen Schenkel. Während er bei den Männern unter der Laterne vorbeiging, räusperte sich der Soldat und geriet aus dem Marschrhythmus. Er wechselte den Schritt und räusperte sich wieder. An der nahen Bude mit Zigaretten hielt er an. Drinnen brannte eine Petroleumlampe. Die Gesichter des Soldaten und des
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