Die schoene Frau Seidenman
Grauschimmeln davor kutschiert. Sie irrte sich in dieser Hinsicht nicht, obwohl ihr früherer Pfarrer, im Grunde altmodischer, als er nach außen wirkte, diese Volkstümlichkeit und Gewöhnlichkeit Gottes wohl für eine Sünde gehalten hätte.
Sie hieß Schwester Weronika, wenngleich sie sich einmal gewünscht hatte, den Namen Joanna anzunehmen, zum Gedenken an das Dorfmädchen, das die mittelalterliche Schlachtordnung der französischen Ritterschaft angeführt hatte und später auf dem Scheiterhaufen gestorben war. Schwester Weronika führte ein sehr fleißiges Leben. Sie schonte sich nicht. Das Ziel, das ihr vorschwebte, war einfach. Sie wollte alle Kinder der Erde zu Gott hinführen, die nahen und die fernen, die weißen, schwarzen, gelben, ja die ganz und gar exotischen. Wenn es in ihrem Herzen etwas wie Verständnislosigkeit gab, dann wohl nur jüdischen Kindern gegenüber, denn es ist etwas anderes, ob man jemand gar nicht kennenlernt oder ob man ihn kennenlernt und mit Füßen tritt. Die schwarzen Gesichtchen der fernen kleinen Neger hielt Schwester Weronika für unschuldig, weil der Finger der Wahrheit sie noch nicht berührt hatte. Die bräunlichen Gesichter der jüdischen Kinder trugen das Mal dieser Religion und des Hasses, dem der Erlöser unter dem Volk Israel begegnete. Sie waren es, die Gott verworfen, die den Worten Seines Sohnes nicht geglaubt hatten. Eine hohe Mauer des Mißtrauens trennte Schwester Weronika von den jüdischen Kindern. Fremdheit strahlte von ihnen aus. Ging sie, hochgewachsen, stark, mit den festen Schritten ihrer männlichen Füße über den Bürgersteig, flohen die jüdischen Kinder vor ihr. Ihre weiße Haube glitt wie das geblähte Segel eines Schiffes zwischen den schwarzen, scheuen jüdischen Booten hindurch. Nie legten sie sich an ihre Bordwand, und sie fuhr nie in ihre lärmerfüllten Buchten.
Doch Schwester Weronika besaß viel gesunde, bäuerliche Vernunft und erkannte, daß die Welt schwieriger und geheimnisvoller ist, als sie in ihren Kinderjahren geglaubt hatte, und daß sich die Rätselhaftigkeit Gottes mit dem menschlichen Geist nicht ergründen läßt. Es gibt viele Wege, die der Mensch gehen kann, und viele Irrwege. Schwester Weronika wußte, nur ein Weg führte zum Ziel, doch das Knäuel der Schicksale, Sitten, Zweifel, Träume und Traurigkeiten war sehr verworren. Auch diese Vielfältigkeit war ja das Werk Gottes, des Schöpfers Himmels und der Erde. Also betete sie inbrünstig für die Seelen der irrenden Nächsten und auch darum, die Verständnislosigkeit ihres eigenen Herzens möge aufhören.
Als der Krieg ausbrach, ergaben sich zahlreiche Änderungen in Schwester Weronikas Leben. Zunächst fühlte sie sich ratlos und wie betäubt. Bomben fielen auf die Stadt, Häuser sanken in Trümmer, Brände brachen aus. Vor ihren Augen starben Menschen, und sie konnte ihnen keine Hilfe bringen. Die Dörflichkeit ihrer Natur, die fehlende Ängstlichkeit angesichts körperlicher Leiden – sie hatte ja als Kind aufgedunsene Kühe gesehen, lahmende Pferde, das Schweine- und Hammelschlachten, Wunden von Axt und Sense, blutige und schmerzhafte Krankheit, auch den Tod leidender und frommer Menschen – diese dörfliche Seelenstärke bewirkte, daß gerade sie während der Belagerung der Stadt die anderen Schwestern anleitete, Verwundete zu verbinden, Kranke zu pflegen, bei Sterbenden zu wachen. In ihrem Herzen wuchs immer mehr Erbarmen. Damals dachte sie, der Trost falle ihr leichter als die Katechese, weil die Leidenden Gott nötiger brauchen.
Als die deutschen Truppen in die Stadt einrückten, fürchtete sie weder die Gendarmen auf der Straße noch die schreckliche Gestapo. Sie war bereit, alles anzunehmen, was Gott ihr bestimmte. Ihre Haube sah auf der Straße nicht mehr aus wie ein Segel, sondern wie eine Fahne des Glaubens und der Hoffnung. Sie betreute verwaiste, auf den Wegen des Krieges verlorengegangene Kinder und pflegte sie, wenn sie sich verlassen, hilflos und unglücklich fühlten. Vom frühen Morgen bis zum späten Abend lief sie durch die Straßen, eine harte Frau mit großen Füßen, schlichten Manieren und sanften Augen. Die Goldkronen glänzten beim Lächeln. Die Falten wurden tiefer in dem noch nicht alten Gesicht. Ihre Sprechweise war schlagfertig und rauh. Nur zu Kindern sprach sie in weichem und sanftem Ton. Oft behandelte sie die Erwachsenen nahezu unhöflich, weil sie keine ordentliche Erziehung genossen und wenig Zeit, aber ein erhabenes Ziel hatte
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