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Die schoene Frau Seidenman

Die schoene Frau Seidenman

Titel: Die schoene Frau Seidenman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrzej Szczypiorski
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scheppern.
      Er erhob sich vom Sofa, streckte die Beine und reckte die Arme, wie er das früher getan hatte als gesunder, wohlgenährter und glücklicher Junge, wenn er in seinem Zimmer auf der Królewska-Straße erwachte. Er fühlte sich frisch und kräftig. Auf der Schwelle blieb er stehen. Die Gasflamme rauschte fröhlich. Die Frau in Rock und Unterrock, mit nacktem Rücken und dunklem, schulterlangem Haar, schlanken, kräftigen Armen und schlanken, kräftigen Waden, stand über die Waschschüssel gebeugt und spülte den Becher mit Wasser aus dem Teekessel.
    Hier war der Mittelpunkt der Erde, hier verlief die Achse des Weltalls. Nicht nur, weil hier der entfesselte, rasende Schicksalswagen angehalten hatte, auf dem Henryk Fichtelbaum seiner Vernichtung entgegeneilte, nicht nur, weil sich Henryk mit seiner neu erwachten Hoffnung hier befand. Hier war der Mittelpunkt der Erde, die Achse des Weltalls, weil Gott selbst hier den Kern der Schöpfung angebracht, den Zeigefinger vor Jahrhunderten hingelegt und mit ihm den Kreis des Sinnes allen menschlichen Lebens beschrieben hatte. Hier, wo die blaue Gasflamme rauschte, war einst die Quelle geflossen, an der der gedungene Tatar seine Pferde getränkt hatte, hier lief auch der Weg, auf dem die Bojaren mit dem Strick um den Hals in polnische Gefangenschaft gezogen waren, und zu beiden Seiten dieses Weges hatten der Jude und der Deutsche ihre Kaufmannsschragen errichtet. Hier und nirgendwo anders auf der Erde hatten sich die Schabbeskerzen mit trübem, gelblichem Glanz in den Scheiden russischer Säbel gespiegelt, und polnische Hände hatten im Schatten des preußischen Weihnachtsbaums die Oblate gebrochen. Hier und nirgendwo anders im Weltall hatte E. T. A. Hoffmann den polnischen Straßen Namen gegeben, der Moskauer Fürst polnische Soldaten zum Kampf angefeuert, damit sie genauer auf die Garde des Imperators schossen, hier hatten vom Fieber der Auszehrung befallene Juden, vom Geist der Freiheit ergriffene russische Offiziere und in Fesseln geschlagene polnische Verbannte gemeinsam gegen die Tyrannei konspiriert. Hier war der Mittelpunkt der Erde, die Achse des Weltalls, wo sich das Törichte und das Erhabene verflochten, der nichtswürdige Verrat mit der reinsten Selbstaufopferung. An dieser einzigen Stelle blickte die wilde, bräunliche und durchtriebene Schnauze Asiens seit undenklichen Zeiten von nahem in die fette, anmaßende und dumme Fresse Europas, hier und nirgendwo sonst schauten die versonnenen und sensiblen Augen Asiens in die vernünftigen Augen Europas. Hier war der Mittelpunkt der Erde, die Achse des Weltalls, wo der Westen den Osten in die Arme nahm und der Norden dem Süden die Hand entgegenstreckte. Auf galoppierenden Steppenpferden, in den Traglasten auf ihrem Rücken wanderten hier entlang die Bücher des Erasmus von Rotterdam. Jüdische Wägelchen, deren Deichseln in den Schlaglöchern brachen, streuten hier Voltaires Saatkorn aus. Im preußischen Postwagen fuhr Hegel nach Sankt Petersburg, um später in einer russischen Troika mit dem in einen Schaffellmantel gehüllten Tschernyschewski zurückzukehren. Hier war Ost und West, Nord und Süd. Auf dieser Straße verneigte sich der Tatar, das Gesicht gen Mekka, las der Jude die Thora, der Deutsche seinen Luther, entzündete der Pole seine Kerzen zu Füßen der Altäre von Tschenstochau und im Spitzen Tor zu Wilna. Hier war der Mittelpunkt der Erde, die Achse des Weltalls, die Anhäufung von Bruderschaft und Haß, Nähe und Fremde, denn hier erfüllte sich das gemeinsame Schicksal weit voneinander entfernter Völker, auf diesen Mühlsteinen an der Weichsel mahlte Gott das polnische Mehl zur Stärkung der Hungrigen, das polnische Mehl, das himmlische Manna eines Moses und eines Christus, des Alten und des Neuen Bundes, für alle Märtyrer und Schufte, Heiligen und Schurken dieser Erde.
      Henryk Fichtelbaum aß Brot mit Speckscheiben, trank Kaffee aus dem Becher und dachte an Asien und Europa, seine Vergangenheit, sein Los und seine Bestimmung. Die Gasflamme rauschte, die Frau sah zu, wie Henryk aß, ihr Gesicht war heiter und lächelte, vielleicht ein bißchen spöttisch, denn die Frau fürchtete sich vor ihrer eigenen Güte und Ehrlichkeit; in der Welt, in der sie lebte, gehörte es sich nicht, gut und ehrlich zu sein, dabei verlor man gewöhnlich am Ende, darum lächelte sie spöttisch, doch Henryk Fichtelbaum bemerkte nur die Sanftmut in ihrem Gesicht und nahm den kaum merklichen spöttischen Zug

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