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Die schoene Frau Seidenman

Die schoene Frau Seidenman

Titel: Die schoene Frau Seidenman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrzej Szczypiorski
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als Herausforderung, Anreiz, Versuchung, und als er mit Essen und Trinken fertig war, näherte er sich der Frau, legte den rechten Arm um sie und die linke Hand auf ihre Brust.
    »Was denn?« sagte sie unsicher. »Was soll das?«
      Aber sie leistete keinen Widerstand, weil er jung war und hübsch, kräftig und dunkel wie sie, und auch, weil sie noch nie einen Juden gehabt hatte und alles haben wollte, was zu ihrer Welt gehörte.
    Sie löschte die Gasflamme und dann auch die Glühbirne im
    Flur. Vor dem Fenster dämmerte es bereits. Sie legten sich auf das Sofa unter dem Heiligenbild. Die Frau half Henryk, weil er noch nie geliebt hatte und sie schon viele Male. Später sagte sie: »Na, Mensch!«
      Und er sprach im Dunkeln aus tiefster Überzeugung: »Jetzt kann ich sterben.«
      »Du wirst nicht sterben«, sagte sie. »Es wird schon irgendwie.«
      »Nein«, sagte Henryk Fichtelbaum. »Da ist nichts zu machen. Ich möchte nur nicht allein. Verstehst du das?«
    Sie nickte. Sie verstand das gut.
      »Warum soll ich allein sterben und ganz demütig?« fragte er und schaute zu dem dunklen Fenster, das auf die bereits unsichtbare Mauer hinausblickte. »Ich möchte dann schreien vor Haß und Verachtung, damit die ganze Welt es hört. Verstehst du das?«
    Wieder nickte sie. Auch das verstand sie. Doch sie war eine Frau und hatte deshalb mehr gesunden Menschenverstand und Scharfsinn. Sie hatte die Menschen ganz gut kennengelernt. Sie glaubte nicht, daß die ganze Welt den Schrei des sterbenden Henryk hören würde. Nur der hört die Sterbenden, der zusammen mit ihnen stirbt. Sie glaubte nicht an die Stärke und das Echo dieses Schreis. Viele Jahre später, als sie bereits verwitwet war und Kassiererin in einem Fleischerladen, eine korpulente, dunkle Frau mit unfreundlichem Gesicht und lauter Stimme, Mutter eines versoffenen Materialverwalters und blassen Schlaumeiers, der nach dem Vater schlug, Mutter eines kleinen Trinkers aus der Zeit der Farbfernseher und Möbel, die mit Schmiergeldern und hintenherum erworben waren, abgenutzter, schmutziger Autos und der Schweinerippchen auf Karten, aus der Zeit der Heuchelei, der Phrasen, der MilizSchlagstöcke, SS-20-Raketen und Pershings, also viele Jahre später latschte sie in Schuhen mit flachen Absätzen, im Wollmantel, eine Ledertasche am Arm, gelangweilt und ärgerlich, groß, dick, aber immer noch drall genug, um die Blicke der Männer anzuziehen, die in dieser Welt der aufgewühlten Straßen, der neuen, vernachlässigten Häuser, der schlanken Halbstarken in Jeans und mit empörerisch blitzenden Augen, stets nach Frauen hungerten, latschte sie durch diese seltsame, abstoßende, aber in ihrer Einzigkeit doch wunderbare Welt, um sich dem jüdischen Denkmal auf dem leeren Platz zu nähern, über den die Winde fegten, und die in Stein gehauenen Gesichter dieser an die Mauer gehefteten Juden von übernatürlicher Größe zu betrachten, steinerne, schweigende Juden, deren Stimme niemand mehr hörte. Im Gesicht des Jünglings suchte sie nach Henryk Fichtelbaums Zügen, doch sie erinnerte sich gar nicht mehr, sie hatte Henryk ja nur ziemlich kurz im Licht der Glühbirne gesehen, später auf dem Sofa hatte die Dunkelheit sie beide eingehüllt, sie konnte deshalb die Züge des Juden nicht behalten haben, den sie mit ihrem ganzen Körper und ihrer Seele geliebt hatte, diesen einen Kriegsabend lang, und im Grunde wollte sie sich nicht an ihn erinnern, denn er spielte in ihrem Leben keine Rolle, er war an der Pumpe aufgetaucht, um binnen kurzem hinter der Ecke der ZąbkowskaStraße zu verschwinden, darum konnte und wollte sie sich an ihn nicht erinnern – so wie fast alle anderen Menschen in dieser Stadt, die mit ihren Angelegenheiten, mit dem Alltagsleben beschäftigt sind und nicht wissen, daß sie verletzt wurden, denn ohne die Juden sind sie nicht mehr jene Polen, die sie einst waren und für immer hätten bleiben sollen.
      »Schlaf«, sagte sie zu Henryk Fichtelbaum. »Morgen kann sich manches ändern.«
    Aber er wollte nicht schlafen. Er faßte plötzlich einen Entschluß, den er nicht ohne Grund mit dem Körper dieser Frau in Verbindung brachte. Plötzlich war er kein Junge mehr, sondern ein Mann und betrachtete sein Schicksal anders. Tapferkeit war in ihm und Entschiedenheit. Diese Frau hatte ihn zu einem Tod verurteilt, der seine bewußte Wahl sein würde. Henryk Fichtelbaum wird ins Ghetto zurückkehren, nicht länger mehr fliehen, sich nicht in Löchern,

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