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Die schoene Frau Seidenman

Die schoene Frau Seidenman

Titel: Die schoene Frau Seidenman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrzej Szczypiorski
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abschirmen sollte, gegen jede Vernunft und gegen alle Erfahrungen der vergangenen Monate blieb Henryk Fichtelbaum stehen. Er blieb nicht nur stehen, er kehrte um. Er kehrte nicht nur um, er näherte sich der Frau, ergriff den Bügel des Eimers und hob diesen von der Einfassung. Die Frau blickte Henryk in die Augen, schaute dann hinunter auf seinen Arm und wieder in seine Augen. Langsam nickte sie, drehte sich um und ging auf das Hinterhaus zu, und er folgte ihr und trug den Eimer mit dem frischen Wasser.
      Sie betraten das dunkle Treppenhaus und nahmen ein paar knarrende Holzstufen. Sie öffnete eine Tür. Als sie sich drinnen befanden, schob sie den Türriegel vor. Es war ein enger Korridor voller Gerümpel. Unter der Decke brannte eine schirmlose Glühbirne. An der Wand stand ein mit blauem Wachstuch überzogener Tisch, daneben ein Holzstuhl. Außerdem ein Hocker, auf dem Hocker eine Waschschüssel.
      »Hier«, sagte sie und wies Henryk die Stelle neben dem Hocker, wo er den Eimer mit dem frischen Wasser hinstellen sollte. Daneben befand sich ein zweiter, mit Abfällen gefüllter Eimer. Eine niedrige Tür mit einem Guckloch, vor dem eine Baumwollgardine hing, führte in das kleine Zimmer. Dort gab es das Sofa, das Heiligenbild, einen Schrank und ein Fenster, das auf die dunkle, beschädigte Mauer hinausschaute. Den Himmel konnte man nicht sehen, auch die Pumpe konnte man von diesem Fenster aus nicht sehen. Nur die Mauer und die Pflastersteine.
    Mit einer Kopfbewegung wies die Frau Henryk den Stuhl an. Er setzte sich. Sie ging zurück in den Korridor. Er hörte das Ratschen eines Streichholzes und das Rauschen der Gasflamme. Dann das Scheppern eines Topfes, den Atem der Frau, das Geräusch des Wassers, das in ein Gefäß gegossen wurde. Er roch Brot. Er schloß die Augen. Ich liebe die Welt, dachte er, und seine Augen füllten sich mit Tränen.
    Nichts geschah. Nur der Schatten wanderte langsam auf der Mauer vor dem Fenster, zusammen mit der Sonne, die hinter den Häusern emporstieg. Nichts geschah, außer daß Henryk Brot mit dünnen Speckscheiben aß und aus einem Becher Kornkaffee mit Saccharin trank. Der Kaffee verbrühte ihm die Lippen, aber er trank viel, trank unaufhörlich aus dem Becher, und wenn der Becher leer war, füllte die Frau ihn schweigend von neuem. So verging die Zeit, der Schatten wanderte auf der Mauer gegenüber dem Fenster, Henryk stärkte sich, die Frau schwieg, betrachtete ihn, schaute schweigend zu, wie er sich stärkte, betrachtete ihn wortlos, als kennte sie keine Wörter, keine Sprache, sie saß auf dem Sofa, immer noch halbnackt, schön, im Unterrock, dessen Träger herabgerutscht war, in den Pantoffeln, die sie an der Pumpe nicht hatte naß werden lassen wollen. Als er sich gestärkt hatte, erhob sich die Frau von dem Sofa und befahl ihm mit einer Kopfbewegung, sich hinzulegen. Er gehorchte. Sie deckte ihn mit einer karierten Wolldecke zu und hängte seinen Mantel an den Pflock in der Tiefe des Schrankes. Jetzt saß sie auf dem Stuhl am Fenster, hinter dem der Schatten wanderte. Henryk schlief ein. Die Frau betrachtete sein schlafendes Gesicht und dachte an ihr Dorf am Fluß Liwiec, an die Sandfläche, wo sie die Leichen der erschossenen Juden gesehen hatte, alte und junge, Männer, Frauen und Kinder. Sie hob ihre Augen zu dem Heiligenbild und fing an, im Flüsterton die Muttergottes um die Rettung dieses jungen Juden anzuflehen und danach um ihre eigene Zukunft als verheiratete und wohlsituierte Frau, als Mutter hübscher Kinder, die sich allgemeiner Achtung erfreut und vor den kommenden Jahren nicht fürchtet.
      Henryk Fichtelbaum schlief bis zum späten Nachmittag. Als er die Augen aufschlug, erblickte er das dunkelnde Fenster und dahinter die dunkelnde Mauer, an der Zimmerwand den halb offenen Schrank, aber auch das Profil der Frau, die auf dem Stuhl sitzend eingenickt war. Er dachte, nun sei geschehen, was geschehen sollte, er sei nämlich gestorben und befinde sich im Himmel. Doch wußte er, daß er lebte, weil er wieder Hunger empfand, aber auch Begehren, was nach dem Tode wohl unmöglich wäre.
      Die Frau erwachte. Sie blickten einander in die Augen. Sie sagte: »Wann bist du aus dem Ghetto entwischt?«
    Sie hatte eine heisere Stimme.
    »Vor langer Zeit«, antwortete er. »Schon im Herbst.«
    »Na, na«, sagte sie. »Sicher möchtest du noch essen, was?«
    Er schwieg.
      Sie stand auf und ging hinaus, um das Gas anzuzünden. Wieder hörte er Gefäße

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