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Die schoene Frau Seidenman

Die schoene Frau Seidenman

Titel: Die schoene Frau Seidenman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrzej Szczypiorski
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Pause, auf hundert Straßen gleichzeitig, besonders im Ghetto. Dann dachte er nicht mehr an das Gesicht des lieben Gottes. Eine leere Viertelstunde verging. Auf dem Marktplatz wehte ein warmer Wind. Die Häuser standen dunkel da. Nur ab und zu durchdrangen die dünnen, schwachen Lichtstrahlen von Taschenlampen das Dunkel. Die Leute beschleunigten ihre Schritte. Die Sperrstunde nahte. Pawełek begann zu laufen. Voller Angst dachte er an Henio Fichtelbaum. Später aber, schon warm geworden vom Laufen und immer wieder auf die Uhr schauend, dachte er an die Miniaturen für Kujawski und berechnete seinen bescheidenen Anteil.

6
    S ie war eine hochgewachsene Frau mit glatten, blonden Haaren, schmalen Händen und großen, männlichen Füßen. Sie hatte eine vorspringende Nase, starke Brauen, hübsche, nicht zu strenge Augen und gesunde Zähne. Nur manchmal, wenn sie lächelte, zeigten sich der Welt zwei Goldkronen, auf die sie stolz war. Vielleicht lächelte sie deshalb häufiger als ihre andächtigen Mitschwestern, die von ihr sagten, sie sei eine schelmische Natur.
    Mit sieben Jahren hatte sie eine Vision gehabt. Es war ein Winterabend, der Schnee knirschte unter den großen Füßen des über sein Alter hinaus entwickelten Mädchens. Sie kehrte aus der Schule zurück, allein, weil nur sie so weit entfernt wohnte, hinter dem Flüßchen. Die Sterne leuchteten bereits am dunklen Himmel, man sah den Rauch über den Schornsteinen der Katen nicht mehr, sondern nur die kümmerlichen Lichter der Petroleumlampen in den Fenstern. Gerade wollte sie nach rechts zur kleinen Holzbrücke einbiegen, als sie die Vision hatte. Ihr erschien der Herr Jesus, hell strahlend und schön, mit einem weißen Lamm in den Armen. Sie fiel auf die Knie, in den tiefen Schnee. Die Kälte spürte sie nicht, nur eine Ohnmacht der Freude und Hingabe, die ihren ganzen Körper erfaßte. Der Herr Jesus sagte ein paar Worte zu ihr, er sprach leise, fast flüsternd, doch sie verstand, daß sie nicht über die Brücke gehen sollte, sondern weiter am Fluß entlang und ihn dann auf dem Eis überqueren. Der Herr Jesus verschwand, gebot aber zuvor dem Mädchen, am nächsten Tag an derselben Stelle zu warten, dann werde er ganz bestimmt wieder erscheinen. Sie tat, was ihr befohlen war. Das Herz voller Freude und inniger Hingabe ging sie langsam weiter und gelangte auf dem festen, dicken Eis sicher über den Fluß. In derselben Nacht stürzte die Brücke ein, und zwei gottlose Bauern fanden den Tod in den Strudeln des Flusses.
      Am nächsten Abend wartete sie an derselben Stelle wieder auf den Herrn Jesus. Als er mit dem weißen Lamm in den Armen erschien, gebot er dem Mädchen, ihr gesamtes Leben der Bekehrung von Negerkindern zu widmen. Weitere Visionen hatte sie nicht mehr.
      Sie erzählte ihr Erlebnis dem Ortspfarrer, doch war das ein unsensibler Mensch, der seine Pfarrkinder kurz hielt, mit großem Gewinn Schweine züchtete, den Meinungsaustausch mit dem freidenkerischen Notar aus dem nahen Städtchen pflegte und von den Dorfbewohnern mit nachsichtiger Überlegenheit sprach. Der Pfarrer befahl dem Kind, sein religiöses Erlebnis nicht unter die Leute zu bringen.
      Im Gespräch mit dem Notar sagte er am folgenden Tage: »Die Unwissenheit meiner Schäfchen hat ein Höchstmaß erreicht. Die Kleine glaubt wirklich, der Herrgott habe nichts anderes zu tun, als in meiner Pfarrei Missionare für Afrika zu suchen. Letzten Endes hat es der Herrgott woanders näher.«
    Der Pfarrer indessen war kein tiefgründiger Mensch, denn er begriff nicht, daß die Wege der Gnade unerforschlich sind. Das Kind wuchs auf zu einem frommen, von seiner Sendung tief durchdrungenen jungen Mädchen. Mit siebzehn Jahren trat sie in einen Orden ein. Zunächst dachte sie an eine Reise nach Afrika, um Negerkinder zu bekehren, nach einiger Zeit aber begriff sie, daß man die an jener eingestürzten Brücke gesprochenen Worte nicht zu eng nehmen dürfte, vielmehr eher symbolisch. Sie widmete sich der Glaubensverbreitung unter Kindern und lehrte sie den Katechismus. Ihre Hingabe war vollkommen, sie wurde ein leuchtendes Beispiel der Opferbereitschaft, Ausdauer und Hartnäckigkeit. Die Kinder mochten sie, weil sie eben doch ein wenig schelmisch war oder ganz einfach begriff, daß man über Gott nicht unbedingt feierlich und streng reden muß wie der Prophet Elias, sondern heiter, wie über jemanden, der Bienenvölker pflegt, beim Gerste-Dreschen hilft und eine Fuhre Heu mit zwei hübschen

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