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Die schoene Frau Seidenman

Die schoene Frau Seidenman

Titel: Die schoene Frau Seidenman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrzej Szczypiorski
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Liturgie die Schönheit und Weisheit wieder, aber auch eine durchdringende Nähe Gottes, wie sie sie bisher nicht erfahren hatte. Sie war eine schlichte, bäuerliche Frau und verstand erst jetzt den Sinn und die Bedeutung des Opfers. Das Latein hatte sie früher in eine geheimnisvolle und hieratische Welt geführt, die sie einschüchterte, zum kraftlosen Spielzeug in Gottes Händen machte. Jetzt fand sie sich selbst wieder, ihre Gedanken, Wünsche und Entscheidungen. Aus dem Land der Beschwörungen trat sie über in das Land der Gebete. In ihrer Seele verflüchtigte sich der Zauberbann des Unerforschlichen und öffnete sich der Bereich des großen Liebesgeheimnisses. Schwester Weronikas Glaube näherte sich in ihren späten Lebensjahren immer mehr dem Herrn Jesus, der an einem Winterabend dem kleinen Mädchen erschienen war. Sie besaß keine Gewißheit, ob sie ihn damals tatsächlich getroffen hatte. Aber er mußte sich ihr nicht mehr in einer so ungewöhnlichen Vision offenbaren. Sie spürte unaufhörlich seine Gegenwart, obwohl ihre Augen ›gehalten‹ waren und sie nur die gewöhnlichen Dinge sah. In ihren späten Jahren liebte sie Gott und die Menschen sehr.
      Deshalb konnte sie sich mit dem aggressiven und intoleranten Glauben, den Władysław Gruszecki in sich trug, nicht abfinden. Er war ein kämpferischer Christ und seine Waffe der Sarkasmus, was Schwester Weronika nie guthieß.
      »Ein bißchen mehr Liebe, Władzio«, sagte sie mit schwacher Greisinnenstimme, wenn er sie besuchte und ihr Kuchen aus der Konditorei Blikle, den Duft von Kölnisch Wasser und den kurzsichtigen Blick des Spötters mitbrachte. Seine dunklen, jüdischen Augen strahlten in kühlem, unangenehmem Glanz, sobald er über die Juden sprach. Gewiß litt er schrecklich. Aber nicht nur sein Polentum war unecht. Er kleidete sich mit Eleganz, achtete auf den Schnitt seines dunkelblauen Jacketts mit den goldenen Knöpfen und auf seine aschgrauen Flanellhosen, die aus diesem Nachkommen königlicher Truchsesse und litauischer Mundschenke einen Dauergast englischer Yachtclubs machte. Er rauchte Pfeife. Er trank keinen Alkohol. Er aß nicht Gefilte Fisch. Er ließ keine Sonntagsmesse aus. Er sammelte alte Stiche. Er trug maßgeschneiderte Hemden. Er heiratete nicht. Er war höherer Beamter bei der staatlichen Landwirtschafts-Verwaltung. Er hatte ein landwirtschaftliches Studium absolviert. Er wollte als Intellektueller gelten. Er las zwar auch Kriminalromane, erwähnte das aber nur ungern. Dostojewskij nannte er unseren gemeinsamen Priester und Tolstoj den alten, weisen Grafen.
    »Der alte, weise Graf sagt, daß…«
      »Unser gemeinsamer Priester hat seinerzeit geschrieben, daß…«
      Am meisten liebte er Sienkiewicz und schämte sich dessen absolut nicht. Hier war er authentisch.
      Im Sommer 1968 gab er seiner Freude Ausdruck, daß Polen sich endlich seiner Juden entledige.
      »Wir müssen ein Volk einheitlichen, gemeinsamen, heimischen Blutes sein!« sagte er.
      Schwester Weronika schob den Kuchenteller weg, faltete die Hände vor ihrer Brust und sprach im Zorn: »Władzio! Ich möchte nicht mehr, daß du zu mir kommst.«
    »Warum sagen Sie das, Schwester?«
    »Du bist erst etwas über dreißig und redest total verkalkt!«
    Das verwirrte ihn. In ihrer Gegenwart gelang ihm sein konservativer Adliger mit den tief verwurzelten nationalen Anschauungen immer recht schlecht. Danach besuchte er sie im grauen Anzug, aber ohne Siegelring und Pfeife. Er benahm sich nun diskreter. Diese Besuche setzten ihm zu, aber er liebte Schwester Weronika auf seine Weise. Sie war sein Brückensteg. Über sie gelangte er zum alten, vergessenen Ufer. Vielleicht besuchte er sie deswegen. In dem kleinen Parlatorium, wo sie beieinander saßen und sich über seine Arbeit und ihre Alltagssorgen mit der ausgelassenen Jugend unterhielten, spürte er wohl die Gegenwart der Vergangenheit. In der dunklen Zimmerecke stand der kleine Artur Hirschfeld, Sohn eines Zahnarztes, und wollte nicht Władzio heißen. Vielleicht sah er sogar das Gesicht seines Vaters, seiner Mutter, seiner älteren Brüder, deren Seelen ihn längst verlassen und ihre Plätze bereitwillig für die Seelen der Husaren, Kosakenführer und Verteidiger der  Jasna Góra  geräumt hatten. Vielleicht ruhte er sich bei Schwester Weronika aus von den Mühen seines  sarmatischen  Polentums und antisemitischen Katholizismus, die er schließlich nicht selbst erdacht, sondern nur nachgeahmt hatte,

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