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Die schoene Frau Seidenman

Die schoene Frau Seidenman

Titel: Die schoene Frau Seidenman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrzej Szczypiorski
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randvoll gefüllt mit unaussprechlicher Angst, versteckten Phobien, unausgeträumten Träumen.
      Doch sogar im Parlatorium erlag er manchmal den Einflüssen seiner zwiespältigen Persönlichkeit, so als könnte er sich auch in der Nähe eines Zeugen seiner Kindheit nicht von den Gespenstern frei machen.
    Schwester Weronika war sehr alt und krank, als sie zum ersten Mal seine eigene, spöttische Waffe benutzte. Władysław Gruszecki näherte sich der Fünfzig, er brachte weiterhin Kuchen von Blikle und besuchte die Greisin regelmäßig, konnte aber über nichts anderes mehr reden als über die Landwirtschaft, über Einsaat, Ernte, Fruchtwechsel, Stickstoffdünger, Traktoren der Marke Bison, Mähdrescher sowie die Rückständigkeit der individuellen Bauernhöfe. Władysław Gruszecki war ein guter Fachmann, denn er hatte sein landwirtschaftliches Studium musterhaft abgeschlossen und sich jahrelang mit Agrarökonomie beschäftigt. Doch gab es keinen Zweifel – mindestens für Schwester Weronika –, daß er das Kind eines jüdischen Zahnarztes aus der großen Stadt war, nie auf dem Acker gearbeitet, mit dem Leben auf dem Lande nie etwas zu tun gehabt hatte und die bäuerliche Lebens- und Denkweise nicht kannte. Schwester Weronika aber war, obgleich sie mehr als ein halbes Jahrhundert im Habit verlebt hatte, eine Bäuerin geblieben, sie reagierte in bäuerlicher Weise auf die Welt, mit jenem unüberwindlichen und hartnäckigen Realismus, mit jener bäuerlichen Härte bei den Abrechnungen, die kein Computer übers Ohr hauen kann. Als er deshalb über die Kurzsichtigkeit der Landwirte herzog, ihren Mangel an ökonomischer Phantasie kritisierte und vor Schwester Weronika sein Programm zur Gesundung der Landwirtschaft entfaltete, das teils die Kolchosen, teils die Farmen zum Vorbild hatte, als wäre Polen eine Kreuzung von Nebraska und der Ostukraine, als er sich erregte und spottete, schimpfte und klagte, unterbrach sie ihn plötzlich mit einer Bewegung ihrer durchsichtigen Greisenhand. Und als er verstummte, sagte sie mit feinem Lächeln: »Ich will dir was sagen, Władzio. Die Landwirtschaft ist keine Beschäftigung für Alttestamentarische.«
      Und sofort erschrak sie über ihre Worte, weil sie begriff, daß dies ein Stoß direkt ins Herz war. Nicht nur in sein Herz. Sie verletzte sich selbst mit diesem Spott, dem sie – so hatte sie jahrelang geglaubt – längst entwachsen war. Und doch hatte in ihrer Seele ein Dorn des bäuerlichen Hochmuts diesen dunklen, allgegenwärtigen Menschen gegenüber gesteckt, die da ungebeten einen fremden Feldrain überschreiten.
      »Ich bin eine dumme alte Bäuerin!« rief sie aus. »Verzeih mir bitte, Władzio…«
      »Was gibt es da zu verzeihen«, entgegnete er kalt und schürzte verächtlich die Lippen. »Eigentlich haben Sie völlig recht, Schwester!«
    Wieder saß er steif und fest im sarmatischen Sattel und blickte auf die Pächter herab, die sich rundum drängten. Doch Schwester Weronika, mitgerissen vom Strudel unterschiedlicher Gefühle, von Scham und Zorn, von bäuerlichem Starrsinn und der Süße der Demut, von Liebe zu diesem alternden Unseligen und Sehnsucht nach dem trotzigen kleinen Jungen, der sich nicht beugen und sich nicht verleugnen wollte, nicht einmal angesichts der unausweichlichen Vernichtung – Schwester Weronika rief mit schmerzerfüllter Stimme: »Władzio, hör endlich auf zu provozieren, hör endlich auf, vor mir anzugeben, ich bin nicht ganz Polen, ich bin die alte Weronika, die dich liebhaben möchte wie damals, als du sieben Jahre alt warst! Quäl dich nicht, Władzio. Ich habe nicht mehr viel Zeit zu leben.«
      Da brach Gruszecki in Tränen aus. Sie gleichfalls. Sie hielt sein nasses Gesicht in ihren schwachen, durchsichtigen Händen und schluckte ihre bitteren Tränen hinunter.
      Eine Viertelstunde lang erlaubte ihnen die Welt, in ihre eigene Haut zurückzukehren.
      Doch sollte das erst nach beinahe vierzig Jahren geschehen, jetzt aber zog Schwester Weronika dem kleinen Artur Hirschfeld eine fremde Haut über. Jetzt waren sie Feinde und blickten einander herausfordernd in die Augen. Schwester Weronika sagte und preßte dann die Lippen zusammen: »Wiederhole! Wie heißt du?«
      »Władzio Gruszka«, antwortete er und preßte auch die Lippen zusammen.
      »Gut, Władzio«, sagte sie und wandte sich ab und schloß die Augen. Sie hoffte, Gott werde ihm seine Frechheit verzeihen. Seiner Wahrheit zum Trotz schuf sie menschliche

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