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Die schoene Frau Seidenman

Die schoene Frau Seidenman

Titel: Die schoene Frau Seidenman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrzej Szczypiorski
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war elf Uhr, ein später Frühlingsabend, die Fenster verdunkelt, auf dem Nachttisch brannte eine Kerze, weil der Strom abgeschaltet war wie so oft in der Okkupationszeit. Das Telefon klingelte kläglich. Der Richter erhob sich. Angst stahl sich in sein Herz. Er ging zur Tür, öffnete sie und befand sich auf dem dunklen Korridor, der sein Schlafzimmer vom Rest der Wohnung trennte. In dem Augenblick, da er den Hörer abnehmen wollte, klingelte das Telefon von neuem. Die Hand des Richters bebte leicht. Durch die geöffnete Tür fiel das flackernde Licht der Kerze in den Korridor. Ein riesenhafter Schatten bewegte sich an der Wand.
    »Hallo«, sagte der Richter, »bitte?«
      »Herr Richter Romnicki?« ließ sich eine ferne, raschelnde, wie vom Wind verwehte Stimme vernehmen. »Herr Richter Romnicki?«
    »Ja, am Apparat. Wer spricht dort?« rief der Richter.
    »Fichtelbaum, Rechtsanwalt Fichtelbaum, erinnern Sie sich?«
    »Du lieber Gott!« sagte der Richter leise. »Du lieber Gott!«
      Am anderen Ende die raschelnde Stimme, deutlich, wenn auch sehr weit weg, wie aus einer anderen Welt, und so war es wirklich. Am Telefon war der Rechtsanwalt Jerzy Fichtelbaum, ein früherer Bekannter des Richters. Es ging um dessen Tochter namens Joasia. Der Vater wollte das Kind vor der Vernichtung bewahren.
    »Ich wende mich an Sie, Herr Richter, an der Neige meines Lebens«, sagte der Rechtsanwalt Fichtelbaum, der Richter aber rief: »Sagen Sie das nicht, so darf man nicht reden! Zur Sache, zur Sache, Herr Rechtsanwalt…«
      Sie vereinbarten die Einzelheiten. Der Schatten des Richters bewegte sich an der Wand, er reichte bis zur Decke und sank eilig herab zum Fußboden, um sich erneut zu erheben.
      »Meine Nachbarn sind Volksdeutsche«, sagte der Richter etwas leiser, in der Furcht, man könnte es hinter der Wand hören. »Aber es findet sich Rat, Herr Rechtsanwalt. Bei mir ist es ausgeschlossen. Die Deutschen nebenan, und der Hausmeister ist auch ein nichtswürdiger Mensch! Aber es findet sich Rat.«
      Der Rechtsanwalt Fichtelbaum drängte mit raschelnder Stimme: »Vielleicht werde ich mich in Zukunft nicht mehr mit Ihnen in Verbindung setzen können, Herr Richter. Ich habe einen vertrauenswürdigen Mann, der sie hinüberbringt. Ich flehe um eine Adresse, ich flehe um eine Adresse! Papiere müssen beschafft werden…«
      »Das verstehe ich«, sagte der Richter. »Bitte machen Sie sich darum keine Sorgen mehr. Eine Adresse, sagen Sie? Lassen Sie mich nachdenken, bitte einen Augenblick Geduld, ich muß mich konzentrieren…«
      Vollkommene Stille setzte ein, der Schatten des Richters beugte sich an der Wand unter der Last, denn er trug auf seinen Schultern ein Menschenleben. Dann sagte der Richter Namen und Adresse, und der Rechtsanwalt Fichtelbaum schrie plötzlich: »Lebt wohl! Lebt alle wohl!«
      Die Verbindung wurde unterbrochen. Der Richter drückte die Gabel, einmal und noch einmal. Dann legte er den Hörer auf, kehrte ins Schlafzimmer zurück und setzte sich auf sein Bett. Die Zigarre qualmte überhaupt nicht mehr.
    »Hier«, sagte der Richter laut, als hätte jemand ihn gerufen.
    Sooft er Jahre später »Hier!« antwortete und sich von seiner Pritsche erhob, lächelte er in der Erinnerung an diesen Abend. Es war ein zugleich trauriges und sanftes, mitfühlendes und spöttisches Lächeln, denn der Richter dachte dann an den Rechtsanwalt Fichtelbaum, das Nachthemd, die Zigarre und die Kerze auf dem Nachttisch. Der Gefängniswärter murmelte vor sich hin: »Warum so heiter, Romnicki, haben Sie noch nicht genug abgekriegt?«
      Er berichtete seinem Vorgesetzten mehrmals, der Verdächtige Romnicki benehme sich beim Appell wie ein Halbidiot.
      »Weil er einer ist«, folgerte der Vorgesetzte. »Ein alter Trottel mit Matsch im Kopf. Der macht's sowieso nicht mehr lange.«
      Seine Zellengenossen fragten den Richter, was sein seltsames Lächeln bedeute. Aber er antwortete nicht. Im Alter war er wachsam geworden. Seine Beredsamkeit hatte sich irgendwie verflüchtigt. Und das Vertrauen, das er früher in die Menschen gesetzt hatte, war geschwunden. Er fühlte sich ein wenig verbittert, vom Schicksal betrogen. Vielleicht glaubte er auch hin und wieder, Gott oder die Geschichte hätten ihn getäuscht, aber auch das Gefühl für Gerechtigkeit, das er ein halbes Jahrhundert lang in sich geformt hatte, ohne zu wissen, daß die Zeiten sich ändern würden und mit ihnen die Begriffe. Dadurch war er oft

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