Die schoene Frau Seidenman
sowie die Überzeugung, man müsse Gott im Herzen tragen und nicht auf den Lippen.
Vor dem Einschlafen, nachdem sie bereits ihre Gebete gesprochen, dachte sie manchmal, erst jetzt, nach so vielen Jahren erfülle sich ihre Bestimmung, verkörperten sich die an der Brücke über dem Flüßchen gesprochenen Worte Gottes. Zwar hatte sie nie ein echtes Negerkind gesehen, doch desto mehr Menschen zu den Pforten der Kirche geführt! Wie vielen Menschen Trost und das Wort von der ewigen Liebe gebracht! Wahrlich, gäbe es nicht soviel Unglück ringsum, sie könnte sich glücklich fühlen. Unter ihren Augen reiften die kleinen, von ihrer Hand ausgesäten Körnchen des Glaubens. Hatte sie das erwarten dürfen?
Und nun tauchten in ihrem Leben die jüdischen Kinder auf. Sie kamen aus ihren Verstecken auf den Friedhöfen. Mit einer gewissen Verwunderung bemerkte sie, daß nicht alle Schwestern ihre Verständnislosigkeit ablegen konnten. Sogar jetzt noch trennte sie eine Mauer. Sie jedoch fand in sich neue Kräfte, sie hörte das machtvolle Gebot, dem sich niemand zu widersetzen vermag. Gott bewirkte, daß die einsamen und schwachen jüdischen Kinder auf der Suche nach Bewahrung vor Vernichtung und Verdammung zu ihr kamen. Und gerade sie sollte sie bewahren. Das war ein großes Geschenk für sie und für diese Kinder. Eine Art von Gemeinsamkeit menschlicher Angst und mystischer Sehnsucht verband sie mit ihnen. In der Stille des Refektoriums, dessen Fenster auf den Gemüsegarten hinausgingen, im Sonnenlicht, das sich als breite Bahn auf den Fußboden legte, oder im Schein duftender Wachskerzen lehrte sie die jüdischen Kinder, das Zeichen des heiligen Kreuzes zu machen.
»Heb das rechte Händchen«, sagte sie. »Ja, richtig so. Und nun berühre mit dem Händchen die Stirn. Im Namen des Vaters… Und jetzt berühre die linke Schulter. Sag: und Sohnes… Sehr schön, sehr schön. Jetzt hör genau zu. Ziehe das Händchen…«
Die Kindergesichter waren konzentriert und tiefernst. Sie verstanden dieses Zeichen nur mühsam. Manchmal weinten sie im Refektorium leise. Dann tröstete Schwester Weronika sie.
»Freude erwartet dich«, sagte sie, »weine nicht, dich erwartet Freude.«
Doch nicht alle Kinder wußten, was Freude ist.
Es war eine schwierige, aber schöne Arbeit.
Schwester Weronika lauschte auch den Einflüsterungen ihrer bäuerlichen Natur. Sie hatte damals die Vision gehabt, doch gleich darauf befand sie sich in der väterlichen Kate, mußte die Strümpfe und Schuhe ihrer älteren Schwester trocknen, Kartoffeln schälen, die Schweine im Stall versorgen. Sie hatte die Gestalt des Herrn Jesus wie lebendig vor sich gesehen, doch ihre Hände waren bis spät am Abend mit Arbeit beschäftigt. Sie blieb auf der Erde, der bösen, feindseligen, sich gegen Gott auflehnenden Erde.
Sie brachte den Kindern das Kreuzeszeichen bei, aber auch neue Vor- und Zunamen sowie eine kurze und komplizierte Vergangenheit, die Lüge war. Durch diese Lüge sollten die Kinder sich mühsam zu der neuen Lebenswahrheit durchschlagen. Unter dem Bild des Erlösers, in Gegenwart Gottes, drillte sie ihnen den großen Betrug ein, verleitete sie sie zur großen Lüge. Die dreijährigen Knirpse, die von sich nichts wußten, außer daß sie Hunger litten, vor Kälte bebten und die Peitsche fürchteten, nahmen die neue Persönlichkeit gefügig an. Der Instinkt befahl ihnen, die neuen Namen, Zeichen und Anschriften ihrem Gedächtnis einzuverleiben. Sie besaßen eine besondere Schläue, die ihnen erlaubte, die Daseinsangst zu vergessen.
»Wie heißt du?« fragte Schwester Weronika.
»Janusz«, antwortete der schwarzhaarige, lockige Junge und lächelte wie ein alter Großhändler, der Kalbshäute aufkauft.
»Und mit Nachnamen?«
»Wiśniewski.«
»Sprich das Gebet.«
Der Junge sprach das Gebet und legte dabei fromm die Hände zusammen. In seinen Augen standen Demut, Nachgiebigkeit und Furcht vor dem verderblichen Irrtum.
Die älteren Kinder trugen schwerere Lasten. Der siebenjährige Artur, ein Junge von gutem Aussehen, aber ungutem Blick, in dem sich das tief verborgene Sentiment der verfluchten Rasse verriet, lehnte die neue Persönlichkeit ab.
»Wie heißt du mit Vornamen?« fragte Schwester Weronika.
»Artur.«
»Sag das nicht. Dein Name ist Władzio. Wiederhole!«
»Artur!«
»Warum bist du so bockig, Władzio? Dein Vater war Tischler, er hieß Gruszka. Du weißt doch noch, Władzio…«
»Er war Zahnarzt.
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