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Die schoene Frau Seidenman

Die schoene Frau Seidenman

Titel: Die schoene Frau Seidenman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrzej Szczypiorski
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das Zarentum und für die polnische Unabhängigkeit aufnahm. Im 19. Jahrhundert war überhaupt alles einfacher. Erst später komplizierte sich die Welt.
      »Jasio«, sagte Filipek, »du hast doch Dr. Seidenman gekannt.« – »Richtig«, antwortete der rotbackige Deutsche.
      »Frau Seidenman ist bei der Gestapo«, sagte Filipek, »und man muß sie da rausholen.«
      »Jesus Maria!« rief Müller. »Bin ich ein Vermittlungsbüro zwischen der Gestapo und den Warschauer Juden? Was kann ich denn heutzutage ausrichten?«
      »Jasio«, sagte der Eisenbahner, »du kannst viel. Es ist leichter, als Biernat aus dem Kittchen rauszuholen.«
      »Wie lang ist das her!« rief Müller. »Wieviele Jahre sind schon vergangen, seit Biernat im Grab liegt!«
      »Man muß Frau Seidenman rausholen«, sagte der Eisenbahner.
      »Ausgerechnet sie, ja? Andere nicht? Wäre das irgendeine arme Ryfka von der Nowolipie-Straße, würde niemand einen Finger krümmen! Schau doch, was rundum geschieht, Kazio. Die Leute gehen ohne jede Hoffnung zugrunde. Das ganze jüdische Volk geht zugrunde, und du kommst mir mit dieser einen Frau Seidenman.«
      »Alle können wir nicht retten«, sagte Filipek. »Aber Frau Seidenman können wir retten. Und schrei mich nicht an. Ihr seid es doch, die diese armen Juden umbringen…«
      »Was denn für ihr? Die Deutschen!« brüllte Müller und setzte dann ruhiger und voller Kummer fort: »Nun gut. Die Deutschen. Da, zünd dir eine an.«
    Er schob ihm die Zigarettenpackung hin.
      »Wozu hast du dich bei ihnen einschreiben lassen, Jasio?« sagte der Eisenbahner.
    »Ich habe mich nicht einschreiben lassen, das weißt du ganz
    genau. Ich war immer Deutscher. Seit sechzig Jahren. Und die wußten das.«
    »Warum dann das Hakenkreuz am Rockaufschlag?«
      »Eben darum, dummer Kerl. Alle Deutschen gehören dazu. Ich bin Deutscher, folglich gehöre ich auch dazu. Was hättest du von einem Deutschen, der nicht dazu gehörte?«
      »Hol die Frau Seidenman raus, Jasio. Das ist leichter als der Fall Biernat.«
    Plötzlich hatten sie beide das Gefühl, vierzig Jahre jünger zu sein. 1904 hatten sie den Genossen Biernat aus dem Gendarmerieposten von Puławy geholt. Johann Müller war mit einem Schlitten vor dem Gendarmerieposten vorgefahren, in Leutnantsuniform, als junger Baron Ostern, der einen gefährlichen Verbrecher zum Verhör abholt. Der Eisenbahner Filipek spielte den Kutscher. Er trug einen Militärmantel, am Kutschbock des Schlittens lehnte ein Karabiner mit aufgepflanztem Seitengewehr. Der junge Baron Ostern ließ den Postenkommandanten stillstehen. Er zeigte die entsprechenden Papiere vor. Draußen herrschte scharfer Frost. Baron Ostern stand am Kachelofen und rauchte eine dicke Zigarre. Doch der Kommandant in Puławy, ein Armenier, war ziemlich mißtrauisch. Ein durchtriebenes Stück, ein kaukasischer Fuchs, eine Ratte aus dem fernen Asien. Er überlegte lange, am Ende gab er dem Baron zwei Begleiter mit und legte Biernat Handschellen an. Im Wald hinter Puławy mußten sie die Begleiter unschädlich machen, den einen mit der Pistole, den anderen mit dem Kolben auf den Kopf. Gefesselt ließen sie sie im tiefen Schnee an der Landstraße liegen. Biernat rasselte bis Radom mit seinen Handschellen. Erst dort, in der Schmiede am Ortseingang, wurde er befreit. Dann fuhren sie mit der Bahn nach Warschau. Gaslicht, Schweigen, Spannung, Gendarmen auf dem Bahnsteig, entsetzliche Angst, ob es gelingen würde, in die Stadt durchzukommen, oder ob sie beinahe im letzten Augenblick noch eine Niederlage erleiden würden. Aber es gelang. Sie erreichten die Smolna-Straße, wo man sie erwartete.
      »Eine schreckliche Kälte damals«, sagte Müller. »Und ich bekam keine Luft an dem Ofen, während sie die Papiere anschauten.«
    »Hol die Frau Seidenman raus«, sagte Filipek.
      Müller schwieg eine lange Weile, schließlich fragte er: »Wo ist sie genau?«
      »Keine Ahnung. In der Schuch-Allee. Du mußt das herausfinden.«
      »Ich kenn' das Weib nicht!« murmelte Müller. »Ich kenn' das Weib nicht!«
    »Maria Magdalena Gostomska, Offizierswitwe.«
      »Einzelheiten, Kazio! Die da sind doch keine kompletten Idioten.«
    »Komplette nicht«, stimmte Filipek bereitwillig zu.

9
    Z u der Zeit, von der die Rede ist, zählte Wiktor Suchowiak dreiunddreißig Jahre und kam langsam auf den Hund. Das
    lange Leben, das ihm bestimmt war, sollte sich als verfehlt erweisen, denn Suchowiak hatte in seiner

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