Die schoene Frau Seidenman
Sonnenuntergänge. Er liebte weder die Menge, Süßigkeiten, Polizisten, Herbstwetter noch die Gewalt, sofern sie ihm keinen Nutzen eintrug. Schon im ersten Okkupationsjahr gelangte er zu der Überzeugung, die Welt sei verrückt geworden. Zu dieser Zeit überfiel er manchmal Landsleute, im allgemeinen aber zog er Deutsche vor, nicht aus patriotischen Gründen, sondern aus reiner Kalkulation. Seine Landsleute pflegten arm zu sein. Selbstverständlich war sich Wiktor Suchowiak darüber im klaren, welche Risiken Überfälle auf bewaffnete Deutsche mit sich brachten. Doch gab es betrunkene Deutsche oder weniger achtsame, vor allem wenn sie sich in Begleitung von Frauen befanden.
Zu einem bestimmten Zeitpunkt qualifizierte sich Wiktor Suchowiak um. Das hatte sein Gutes im metaphysischen Bereich, denn Wiktor Suchowiak glaubte an Gott, somit auch an Himmel, Fegefeuer und Hölle. Gegen reichliche Bezahlung schmuggelte er Menschen aus dem Ghetto in den arischen Teil der Stadt. Auf diese Weise verdiente er gut und verrichtete edle Taten.
Als erfahrener und redlicher Mensch, dem man sogar in schwierigen Situationen vertrauen durfte, verfügte er über eine recht zahlreiche Kundschaft. Sein Name wurde berühmt, er genoß Achtung sogar bei den Wachmännern, die er an seinen Verdiensten teilhaben ließ. Zwischen Wiktor Suchowiak und manchen Wachmännern spann sich ein besonderer Faden solidarischer Zusammenarbeit, den selbst die blutgierigsten Deutschen nicht mißbrauchten, weil sie wußten, mit wem sie sich eingelassen hatten, und erkannten, daß der Versuch, Wiktor Suchowiak umzubringen, sie das Leben kosten konnte. Der Bandit war ein Mann von ungeheurer physischer Kraft und großer Kühnheit. Andere Schmuggler lebendiger Ware konnten ihm nicht das Wasser reichen. Sie feilschten verbissen mit den Wachmännern, mußten aber immer nachgeben, denn es mangelte ihnen an Seelenstärke und Entschiedenheit. Wiktor Suchowiak ließ es nie zum Feilschen kommen. Er zahlte, wieviel er für angemessen hielt und schnitt alles Jammern und Drohen der Wachmänner kurz ab. Er fürchtete sie ganz einfach nicht, und wenn doch, dann fürchteten sie sich noch mehr.
Im zeitigen Frühjahr 1943 hörte der Menschenschmuggel aus dem Ghetto auf, eine einträgliche Beschäftigung zu sein, weil es niemanden mehr durchzuschmuggeln gab. Die große Mehrheit der Juden war umgebracht. Die Übriggebliebenen, arme Schlucker, hatten nichts, um den Schmuggel zu bezahlen, sie hatten infolge ihres Aussehens, ihres Verhaltens und ihrer Unkenntnis der Sprache keine Chancen, auf der arischen Seite zu überleben. Die Handvoll der im Ghetto gebliebenen Juden sollte binnen kurzem im Kampfe sterben, um später in der Legende zu überleben.
Eines der letzten von Wiktor Suchowiaks jüdischen Geschäften war Joasia, die kleine Tochter des Rechtsanwalts Jerzy Fichtelbaum, der vor dem Kriege als hervorragender Verteidiger in Strafprozessen bekannt gewesen war. Nicht alle seine Klienten zeichneten sich durch so unbeugsame Grundsätze aus wie Wiktor Suchowiak, Fichtelbaum konnte also nicht damit rechnen, auf der arischen Seite zu überleben. Er sah fatal aus. Klein, dunkelhaarig, mit dunklem, dichtem Bartwuchs, olivfarbener Haut, einer klassischen jüdischen Nase, vollen Lippen, in den Augen den Ausdruck eines Hirten aus dem Lande Kanaan. Außerdem trug der Rechtsanwalt Jerzy Fichtelbaum nur wenig Geld in der Tasche und viel Verzweiflung im Herzen. Seine Frau war vor Jahresfrist an einer banalen Geschwulst gestorben, in ihrem eigenen Bett, worum sie das gesamte Mietshaus beneidet hatte. Der Rechtsanwalt war mit seinem Töchterchen Joasia, einem vernünftigen und hübschen Kind, zurückgeblieben. Kurz vor Kriegsausbruch geboren, war Joasia ein spätes Kind des Rechtsanwalts, was seine Liebe nur noch steigerte. Sein Sohn Henryk, fast neunzehn Jahre alt, lebte sein eigenes Leben und sollte seinen eigenen Tod sterben, ohne Zusammenhang mit dem Familiendrama, dafür in sehr engem Zusammenhang mit dem Drama seines Volkes und seiner Rasse. Henryk Fichtelbaum entfloh aus dem Ghetto im beginnenden Herbst des Jahres 1942 und hielt sich versteckt, ohne den Kontakt mit seinem Vater und der kleinen Schwester zu pflegen. So entschied der Rechtsanwalt Jerzy Fichtelbaum, er müsse Joasia retten, um sich desto männlicher und ruhiger auf den Tod vorzubereiten. Es war eine Entscheidung, die jeder vernünftige Mensch an Stelle des Rechtsanwalts getroffen hätte und die viele vernünftige
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