Die schoene Frau Seidenman
Menschen damals trafen.
Wie bereits erwähnt, waren die Nazis zwar die grausamsten Totalitaristen in der Geschichte. Weil sie sich aber dermaßen an die Spitze der Menschheit drängten und nach dem Lorbeer der Erstrangigkeit in der modernen Welt griffen, waren sie noch unerfahren, und es kam bei ihnen zu Versäumnissen. Zum Beispiel funktionierten die Telefonverbindungen zwischen dem Ghetto und der arischen Seite unbeeinträchtigt bis zur endgültigen Vernichtung des jüdischen Stadtteils; infolgedessen konnte der Rechtsanwalt Jerzy Fichtelbaum auf telefonischem Wege bestimmte Einzelheiten für die Rettung Joasias vereinbaren. Die Nazis schnitten nicht nur die Verbindungen nicht ab, sie beschäftigten sich nicht einmal mit dem Abhören, was in späteren Jahren Wiktor Suchowiak – und nicht nur er – im Licht der normalen Erfahrungen der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts nicht begreifen konnte. So jedoch war es, und dank dem konnte Joasia Fichtelbaum bis in unsere Tage überleben.
Eines Abends im Frühling nahm Wiktor Suchowiak sie bei der Hand, streichelte ihr das Haar und sagte: »Jetzt geht der Onkel mit dir spazieren.«
Und der Rechtsanwalt Jerzy Fichtelbaum sagte sehr leise: »Ja, Joasia. Und du mußt dem Onkel gehorchen.«
Das Kind nickte. Der Rechtsanwalt sagte mit etwas heiserer Stimme: »Gehen Sie schon…«
»Gut«, antwortete Wiktor Suchowiak. »Sie können ganz ruhig sein.«
»Und dem Kind kein Wort«, sagte der Rechtsanwalt. »Nie ein Wort…«
»Ich werde das alles weitergeben, machen Sie sich deshalb keine Sorgen.«
»Los!« rief der Rechtsanwalt plötzlich und drehte sich zur Wand um.
Wiktor Suchowiak ergriff wieder Joasias Händchen, und sie verließen beide die Wohnung. Der Rechtsanwalt Jerzy Fichtelbaum stöhnte, das Gesicht zur Wand gedreht, aber sehr leise, weil er niemandem Kummer bereiten wollte, am wenigsten seinem Töchterchen.
»Der Onkel bittet dich, nicht zu weinen«, sagte Wiktor Suchowiak zu dem Mädchen. »Am besten sag' gar nichts, sondern atme nur.«
Das Kind nickte wieder.
Sie traten auf die leere Straße. Wiktor Suchowiak kannte den Weg. Die Wache war nach dem Tarif für einen ungezielten Schuß bezahlt. Sie gingen vorbei. Aber nicht einmal der Schuß fiel. An diesem Abend waren die Wachmänner zu träge.
Doch nicht alle gaben sich dem Dolce far niente hin. Unweit der Mauer trieb sich auf der arischen Seite ein eleganter junger Mann herum, den man in Szmalcownik -Kreisen als den Schönen Lolo kannte. Er war schlank wie eine Pappel, hell wie ein Frühlingsmorgen, flink wie der Wind und munter wie der Gebirgsfluß Dunajec. Auch hatte er eine glückliche Hand, was Jidden anbetraf, er erkannte sie fehlerlos auf der Straße, und wenn er einmal die Spur aufgenommen hatte, verfolgte er sie hartnäckig. Manchmal versuchte das Wild, Haken zu schlagen, manche Jidden kannten nämlich in der Stadt die Durchgangstore, miteinander verbundene Hinterhöfe und Läden mit Seitenausgang. Doch der Schöne Lolo kannte die Stadt noch besser. Um die Wahrheit zu sagen, die Provinz-Jidden, die sich in Warschau wie in einem fremden Wald verirrten, mochte er nicht, diese gequälten und entsetzten Jidden, die sich, von Lolos erstem, zielsicherem Blick getroffen, auf der Stelle ergaben. Er nahm ihnen alles ab, was sie bei sich trugen, manchmal wirklich kümmerliche Groschen. Doch die kümmerlichen Groschen enttäuschten ihn, dann nahm der Schöne Lolo den Jidden beim Arm und führte ihn zur Polizei oder übergab ihn dem nächsten Gendarmen, und seine letzten, an den Jidden gerichteten Worte klangen bitter und melancholisch.
»Das nächste Mal, du räudiger Jidde, solltest du etwas mehr Bargeld bei dir haben. Aber ein nächstes Mal wird's nicht geben. Adieu!«
Während er ›Adieu!‹ sagte, empfand er etwas wie Solidarität mit Europa, das sein Vaterland war.
Lolo machte das Jagen Spaß. Begegnete er einem Jidden, der mehr Aufmerksamkeit erforderte, scheu durch die Straßen irrte, aber Entschlossenheit bewies, folgte er ihm Schritt um Schritt und gab ihm zu verstehen, daß er bereits reingefallen sei, verfolgt wurde und nicht mehr weit kommen würde. Der Jidde versuchte dann, raffinierte Haken zu schlagen, um sich von dem Versteck zu entfernen, in dem sich seine Familie aufhielt. Doch unter dem wachsamen Blick des Schönen Lolo konnte das nie gelingen. Denn am Schluß erwischte er den Jidden und brachte ihn mühelos dazu, sein Versteck zu
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