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Die schoene Frau Seidenman

Die schoene Frau Seidenman

Titel: Die schoene Frau Seidenman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrzej Szczypiorski
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anachronistisch, denn wenn andere sich mit der Wirklichkeit abfanden, blieb er unversöhnlich und warf der Welt Mangel an Würde vor. Die Zigarren erwähnte er nicht. Sooft er morgens und abends, der bindenden Vorschrift entsprechend, mit ruhiger Stimme »Hier!« antwortete, suchte ihn die ständig wache, präzise und immer schmerzlichere Erkenntnis heim, daß die Zigarren zwar unwiederbringlich dahin seien, doch die Ehre nicht.
    Auch die Erinnerung war geblieben, die beste Gabe Gottes. Er wehrte sich hartnäckig gegen jeden Versuch, ihm diese Gabe zu rauben. Er wußte noch alles. Bis in die geringsten Einzelheiten. Den Zigarrenduft und das Quietschen der Straßenbahn, die an der Station vor dem Gerichtsgebäude losfuhr, während er sich zur Arbeit begab. Die Farbe des Himmels über den Warschauer Kirchtürmen und die Taubenflügel vor diesem Hintergrund. Die rostroten Flecken ausgeblichenen Stoffs auf den Rücken jüdischer Kaftane. Der Warschauer Regen. Die Winde, die an Novemberabenden über Warschau dahinziehen, wenn die Neonreklamen angeschaltet werden. Das Klappern der Pferdehufe auf der Kierbedź-Brücke und der graue Streifen des Flusses. Die Schlittenglöckchen in den schneereichen Wintern und die aus warmen Pelzkragen blickenden Frauengesichter. Die trockenen Sommertage, wenn sich auf dem weichen Asphalt die Hufeisen der Pferde und die Zickzacklinien der Autoreifen abzeichnen. Die Gesichter der Friseure, Polizisten, Diebe, Verkäufer, Veteranen, Advokaten, Näherinnen, Soldaten, Artisten und Kinder. Die Teufels- und Engelsgesichter. Er erinnerte sich an alles, bis in die kleinsten Einzelheiten. An den Obstladen, wo am Eingang die Saturationspfanne zischte und der Verkäufer hinter den Weintrauben hervorkam, um den Kunden zu begrüßen. Das Rattern der Singer-Nähmaschinen in der Schneiderei von Mitelman auf der Bielańska-Straße. Die Urteile, die er im Namen der Republik gefällt hatte; Basis dieser Republik sollte die Gerechtigkeit sein, er hatte das ernst genommen und sich deshalb ständig mit Gott gestritten, mit den Gesetzen und dem eigenen Gewissen, denn er hatte gewußt, daß er menschliches Schicksal in seinen Händen hielt. Das Tapetenmuster in seinem Schlafzimmer und die Form der Obstmesser. Die schlaflosen Nächte und die langen Nachtgespräche, wenn Gott und der Teufel ihn besuchten, um über Schuld und Sühne zu plaudern, über Erlösung und Verdammung der Seelen. Er erinnerte sich der Wahrheit. Jedes Jahr, jeden Monat, jede Stunde. An jeden Menschen, mit dem er zu tun gehabt, an die Bedeutung der ausgesprochenen Worte, der getanen Taten, der gedachten Gedanken. Er erinnerte sich also an die Wahrheit, und das war sein Panzer, den keine Lüge durchschlagen konnte, um ihn durch diesen Spalt hindurch aus seinem Panzer zu zerren und ihm die Ehre zu nehmen. Er hätte das alles aufschreiben können, zum Verderben der Welt, die ihn umzingelte. Doch er wußte, daß ein wahres Zeugnis allein nicht viel ist, obwohl es mehr bedeutet als tausend falsche Zeugnisse. Deshalb erinnerte er sich an alles, bis in die kleinsten Einzelheiten. Den Vogelflug damals und die Formen der Wolken am Himmel. Die Gedanken längst verstorbener oder zur Vergessenheit verurteilter Menschen. Die Angst und den Mut, die Verleumdungen und die Opfer, aber auch die falsch benannten Dinge und die der Dinge entkleideten Wörter. Die Briefe, Bücher, Vorworte, Predigten, Schreie, Standarten, Gebete, Grabsteine und Kundgebungen. Die Hände der Überbringer guter Nachrichten und die Hände der Denunzianten. Die Köpfe auf den Sockeln und die in der Galgenschlinge. Er erinnerte sich an Zeiten, wo das Böse und die Lüge sich verschämt und heimlich enthüllten, im Kostüm, in der Maske oder im Dunkel, weil die Leute so tun wollten, als ob sie gut wären und der Wahrheit ergeben, oder weil sie es sogar waren. An all das erinnerte er sich genau.
    Er starb darum heiter, obwohl er wußte, daß er die Welt des vertrauenswürdigen Zeugnisses beraubte. Er glaubte indessen, es blieben andere übrig, denen er das Zeugnis seiner Erinnerung vermacht hatte. Er starb im Jahre 1956, in einer kleinen Provinzstadt, bei entfernten Verwandten, die ihn unter ihr Dach aufnahmen, nachdem er das Gefängnis verlassen hatte. Menschen, denen Unrecht geschehen ist, finden in diesem Lande immer Aufnahme. Krank und kraftlos saß er gewöhnlich in seinem Zimmer am offenen Fenster. Draußen war der Garten, der nach Apfel- und Birnenblüten duftete. Von dort kam der Tod

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