Die schoene Frau Seidenman
und höflich waren, vor allem aber sehr feinfühlig, klug und schön, sogar in ihrer unangenehmen Armut, sogar wenn sie die letzten Nippes verkauften, eine silberne Obstschale oder ein altes Buch. Deshalb konnte er mit ihnen nicht feilschen. Sie hatten dem Anschein zum Trotz und entgegen allem, was von ihnen vorher und nachher gesagt wurde, einen besonderen Sinn, keinen kaufmännischen, sondern ganz einfach einen ethischen, der ihnen sagte, daß Kujawski sie nie betrügen und nie über ihr Elend spotten würde. Ein geheimnisvoller, paradoxer und dennoch wichtiger Faden der Abhängigkeit verband sie und Kujawski, ein Faden, der sich aus dem uralten Knäuel des Polentums, der polnischen Geschichte und Kultur herleitete, dieser unwiederholbaren Docke polnischen Garns, ein Faden der Abhängigkeit und Gemeinsamkeit, der dem Schneider Achtung und Dankbarkeit dafür gebot, daß er ihnen helfen durfte zu überleben; denn es gab etwas in ihnen, was weder sie noch er zu benennen vermochten, was ihm aber erlaubte, solange Pole zu sein, wie es sie in Polen gab – und keinen Augenblick länger!
So fand Kujawski in seinem Leben eine gesegnete Harmonie. Und nur eine Angelegenheit träufelte Unruhe in sein Herz. Daß nämlich Gott, als hätte er sich abgewandt, Polen einer zu schweren Prüfung aussetzte. Womit denn konnte Polen sich so schwer versündigt haben, als es nach einem Jahrhundert der Unfreiheit und der Leiden am Ende des Großen Krieges wiedergeboren wurde und nur eben zwanzig Jahre überstand? Gewiß, nicht alles in Polen war in Ordnung gewesen, aber war woanders alles in Ordnung gewesen? War es in Ordnung gewesen, daß das mächtige Frankreich sich kaum einen Monat gewehrt und dann schändlich kapituliert hatte und vor Hitler fast auf die Knie sank? War es in Ordnung gewesen, daß die bis ans Ende der Welt reichende Sowjetunion binnen zwei Monaten unter dem deutschen Druck krachend zerplatzte? Und die Sowjetunion hatte doch gemeinsam mit Hitler die Teilung dieses unseligen Polen vorgenommen. Für diese Sünde hatte Gott sie gerecht bestraft, sie waren vor den Deutschen bis vor Moskau geflohen und erst dort zur Besinnung gekommen, um wirkungsvoll Widerstand zu leisten. Was gab es denn an Polen und den Polen, daß sie erneut leiden mußten wie nie zuvor? Warum prüfte Gott Polen und die Polen so grausam?
Solche Fragen bedrückten den Schneider Kujawski, der – wie übrigens viele Leute auf dieser Welt – glaubte, Gott lenke die Geschichte der Menschheit. Er erlebte die Zeit nicht mehr, wo man alle Ereignisse ohne Ausnahme mit Hilfe der wissenschaftlichen Methode des dialektischen Materialismus erklärte, und hätte er sie erlebt, er hätte an diese Methode nicht geglaubt, denn er war ihr zufolge ein Kleinbürger und Blinder aus dem Randgebiet der Klassen, dessen Charakter, Geist und Gewohnheiten von der Schere, der Singer-Nähmaschine und der Fadenspule geformt waren, schlechthin das unbewußte, unvollendete und vom Lauf der Geschichte verpfuschte Produkt der soziologischen Version des menschlichen Schicksals – während doch er selbst, der Schneider Kujawski, sehr genau wußte, daß er seine Seele von Gott erhalten hatte und seinem Gewissen gehorchen mußte, das ebenso einzig und unwiederholbar war wie das Gewissen Benjamin Mitelmans, des Richters Romnicki, des Herrn Pawełek oder sogar des Deutschen Geißler, für den er eine Reithose mit Ledereinsatz auf dem Gesäß nähte. Er mußte seinem Gewissen gehorchen, da es seine einzige Waffe gegen die Unrechtmäßigkeit der Welt bildete; und wenn der dialektische Materialismus dieses Wort nicht kannte, sondern ausschließlich die gesellschaftlichen Bedingungen, dann muß er selbst, ob er will oder nicht, beitragen zu den Unrechtmäßigkeiten, zur Verdorbenheit der Welt, sogar wenn er diese Welt erlösen wollte entgegen dem Gewissen des Schneiders Kujawski und den Absichten Gottes.
Doch er erlebte die Zeiten nicht, die erst dann kommen sollten, als seine sterblichen Überreste schon jahrelang in einem Massengrab lagen unter denen vieler anderer bei einer Straßenexekution im Herbst 1943 Erschossenen. Seine Sammlungen verschlang das Feuer des Aufstands und verwehte der Wind, der über die Brandstätte der Stadt fegte, und seiner Seele widerfuhr die Freude, Gott zu begegnen, aber auch der Seele Benjamin Mitelmans und den Seelen der freundlichen und würdigen Personen, die er mit seinem Ankauf von Kunstwerken unterstützt hatte bis zum Ende oder fast bis zum Ende
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