Die schoene Frau Seidenman
desto stärker liebte er es. Seine Liebe wurde noch von dem Gedanken gesteigert, daß er nicht mehr wie früher an den polnischen Erfahrungen teilhaben konnte, daß er, während Polen litt, sorglose Spaziergänge in der herrlichen Alpenlandschaft unternahm, daß ihm nichts fehlte, daß er seinen Durst mit vorzüglichem Bier stillte und seinen Hunger mit vorzüglichen Gerichten, daß er in einem angenehmen, bequemen Haus wohnte und vor allem frei war, Herr seiner Taten und Gedanken, daß er tat, was er wollte, und niemand ihm in den Topf guckte und erst recht nicht ins Herz oder in den Kopf, denn in Deutschland war eine so anständige, vielfältige, redliche Demokratie entstanden, wie sie nur in Deutschland möglich war. So ließ auch die deutsche Demokratie Müller keine Ruhe, denn wiederum fand er in ihr die Tyrannei der Perfektion, ohne welche die Deutschen nicht leben können. Wie vor Jahren in der Konditorei auf der Koszykowa-Straße suchte ihn wieder der Gedanke heim, das Deutschtum bestehe gerade darin, alles zur Perfektion zu treiben, um in allem wenn nicht Vollkommenheit, so doch das Streben nach Vollkommenheit zu beweisen. Er fühlte sich wieder unwohl, ihm fehlte das Unvollendete, Unklare, Ungewisse der Dinge und Gedanken, durch die die Schwäche der menschlichen Natur hindurchscheint, ihr ewiges Suchen nach dem Unbenennbaren und Unaussprechbaren.
Als er schon sehr alt und krank war, dachte er, auf der Terrasse seines Hauses in den Alpen sitzend, nicht ohne bissige Befriedigung: Die Deutschen sind schon wieder ganz und gar Deutsche, sie haben im Westen ihren Amerikanismus zur Perfektion gebracht und im Osten ihren Sowjetismus. Der alte Müller schüttelte den Kopf über sein eigenes krüppeliges Schicksal und sah, als er zum Sterben kam, die Stadt Lodz, die Piotrkowska-Straße, darauf einen sozialistischen Umzug, darin den jungen Johann Müller inmitten polnischer, jüdischer und deutscher Genossen, wie sie mannhaft mit dem Ruf ›Es lebe Polen!‹ auf die berittenen Kosaken zugingen, die am Straßenrand versammelt waren, bereit zur Attacke, die Säbel und Knuten schon über die Pferdenacken erhoben.
12
E s klingelte an der Eingangstür, Pawełek schaute auf die Uhr. Kurz vor neun. Seine Mutter warf einen scheuen Blick zu ihrem Sohn hinüber, der, die Hand auf einem Buch, am Tisch saß und der Stille nach dem Verstummen der Klingel lauschte, der Abendstille in einer leeren, mit schwarzen Rollos und roten Portieren verdunkelten, von der Welt abgetrennten Wohnung. Nur die Standuhr der Firma Gustav Becker, in der hinter Glas die vergoldeten Gewichte und Ketten glänzten, tickte leise in der Zimmerecke. Über dem Tisch glühte bläulich die in eine Metallkrone gefaßte Gaslampe. Pawełeks Finger bewegten sich auf dem Buch, seine Augen wandten sich wieder der Uhr zu, deren Mechanismus innen erbebte, um kurz darauf mit neun gleichmäßigen Schlägen die Stunde anzuzeigen.
»Es ist doch Polizeistunde«, sagte die Mutter flüsternd.
Beide erhoben sich und schauten sich an.
»Ich mache auf«, sagte sie, eine hübsche Frau mit feinen, ausdrucksvollen, einer alten Kamee ähnlichen Zügen. Jetzt stieg in ihr die Angst hoch, die sie lähmte, sobald die Türklingel ertönte oder Schritte im Treppenhaus oder auf deutsch gesprochene Worte zu hören waren. Ihr Mann, Offizier im September-Feldzug, saß in einem Kriegsgefangenen-Lager. Jeden Tag betrachtete sie ihren Sohn, und Entsetzen bemächtigte sich ihrer beim Anblick seiner immer männlicheren, schlanken Silhouette. Sie wünschte, er bliebe ein Kind, und weil das unmöglich war, wünschte sie ihm ein geringes, aber sichtbares Gebrechen, vielleicht ein verkürztes Bein oder schiefe Schultern, am meisten gefreut aber hätte sie sich, wenn er für einige Zeit ein Zwerg geworden wäre. Doch er war kein Zwerg, sondern ein kräftiger und gut gewachsener junger Mann. Demnächst würde er neunzehn Jahre alt werden. Er redete wenig mit seiner Mutter und hielt sich selten daheim auf. Er ließ sich mit großen, gut gewachsenen, jungen Männern ein – und sie war überzeugt, ihr Pawełek führe etwas im Schilde, betreibe irgendein Spiel gegen sie und riskiere sein Leben, sie bebte vor Sorge, Liebe und Haß. Sie warf sich ihre frühere Unbesonnenheit und Redseligkeit vor, die vielen polnischen Märchen und Legenden, mit denen sie ihrem Kind vor Jahren den Kopf vollgestopft hatte. Sie warf sich die Gedichte und Gebete vor, die Lieder und Erinnerungen, Mickiewicz und
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